Ja klar, „die Russen“ wieder, selbst beim bayrischen Bier – das passt natürlich allen, die mit der Revolution vor 100 Jahren nichts anfangen können: Der Münchner Dieter Püschel steht Ende Oktober im Mathäser Filmpalast am Stachus und ärgert sich ein bisschen. Natürlich über das läppische Denkmal für Kurt Eisner, den Revolutionär und Gründer des Freistaates Bayern; eine Metall- und Glastafel haben sie ihm hingestellt, kaum mehr als einen Meter hoch, am Rande dieser öden Metall-, Glas- und Steinpassage mit ihren Rolltreppen, Kinoticket-Automaten, Boutique-Schaufenstern und Schnellrestaurants. Früher befand sich hier der größte Bierausschank der Welt, das Mathäser-Bräu, 4.000 Plätze. Unter dem Bild Eisners steht: „Im ehemaligen Mathäser-Bräu übernahm am Abend des 7. November 1918 der Arbeiter- und Soldatenrat unter der Leitung von Kurt Eisner die Regierungsgewalt in München und schuf damit die Voraussetzung für die wenige Stunden später erfolgte Proklamation Bayerns zur Republik.“
Fünf Schritte weiter informiert ein Plakataufsteller über die Burger und Asia-Gerichte einer Bar, zwischen Desserts und Allergene-Info stehen die paar „Wusstet-ihr?“-Zeilen, die Dieter Püschel auch ärgern: „Um die Soldatenräte der Roten Truppen (Kommunisten), die den Mathäser besetzt hielten, länger einsatzfähig zu halten, wurde das im Mathäser vorrätige Weißbier mit Zitronenlimonade ‚gestreckt‘. Daraus ließ sich im Volksmund die Russenmaß ableiten.“
Rote Truppen, Kommunisten, Russen! Dieter Püschel hat an dieser Wortgeschichte für den noch heute beliebten Mix aus Weißbier und Limonade so seine Zweifel, aber es würde natürlich passen: Eisner und die Seinen als „Russen“ abzuqualifizieren, als gefährliche Bolschewiken, die wie die Zaren-Mörder blutig revoltieren wollten. Dabei steht doch heute noch auf einem anderen Eisner-Denkmal am Oberanger sein Satz „Jedes Menschenleben soll heilig sein“; dabei ging es ihm, der in Marburg für die Hessische Landeszeitung schrieb und unter den Einfluss der dortigen Neukantianer geriet, um eine Synthese aus Kant und Marx, aus Parlamentarismus und Räterepublik – die letztere als „Druckkammer“ für den ersteren, so erklärt es Püschel.
Im August 2017 hatte Dieter Püschel dem Freitag einen Leserbrief geschrieben, es ging um einen Artikel zum Klassenbewusstsein, von dem ausgehend er empfahl, sich intensiv mit Eisner und der Geschichte der Revolution in Bayern zu beschäftigen. Ein Jahr später: Ob er, Püschel, denn Lust habe, einem spätgeborenen Journalisten einige Orte der Revolution in München zu zeigen? Er bejahte sogleich.
Der 74-Jährige ist einer der viel zu wenigen, die sich in ihrer Freizeit mit den Vorgängen von vor 100 Jahren beschäftigen, auch abseits von Jahrestagen. Der Philosoph wurde und in den 1980ern aus der SED flog, weil er nicht den Rausschmiss Peter Rubens und anderer am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR unterstützen wollte, sich ein paar Jahre in der DDR durchschlug und dann im Herbst 1989 nach München zog. Der dort Ende der 1990er als Disponent einer Zeitarbeitsfirma wieder Boden unter die Füße bekam und bis heute wie so viele ein Linker auf der Suche ist, immer schwankend zwischen Verzweiflung und Hoffnung. „Einen wie Eisner bräuchte es heute wieder“, sagt er, der sich nun seit Jahren mit dem Gedenken Münchens an Eisner und die Revolution beschäftigt.
Diese plötzliche Energie
Zehn Straßenbahn-Minuten vom Mathäser entfernt spricht Püschel gleich die drei Frauen an, die gerade aus der Guldeinschule kommen, vom Pausenhof hallt Kinderlachen herüber, „Grüß Gott, wissen Sie denn, was das für ne berühmte Schule ist?“ – „Des is ne Grundschule“, sagt die eine Frau. „Eine schöne, alte Schule“, die zweite. „War mal ne Militärkaserne“, sagt Püschel. „Vor 100 Jahren. Hier stand Eisner mit seinen Leuten.“ Die Frauen lachen verlegen. „Das haben wir aber nicht mehr gesehen“, sagt eine. Die drei geben hier Deutschunterricht für Mütter mit Migrationshintergrund, aber das Fenster, aus dem am 7. November 1918 die rote Fahne gehisst wurde, das können sie leider nicht zeigen.
Zur Guldeinschul-Kaserne waren Eisner, der blinde Bauernführer Ludwig Gandorfer, der Schriftsteller Oskar Maria Graf und eine Masse von kriegsmüden und revolutionslustigen Frauen und Männern als Erstes hergezogen, nach ihrer Friedenskundgebung auf der Theresienwiese. Was dort geschah, schildert Volker Weidermann in seinem 2017 erschienenen Buch Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen so: „Ein erster Schuss fällt, es droht Panik, einige stürmen in die Schule hinein, die meisten drängen wieder heraus. Einige Zeit später wird ein Fenster oben im Schulgebäude aufgerissen, einer schwenkt eine rote Fahne und schreit: ‚Die Mannschaft hat sich für die Revolution erklärt! Alles ist übergegangen! Weitergehen, marsch, marsch! Weiter!‘“
Weiter sind sie dann gegangen, zu anderen Kasernen, die Soldaten schlossen sich an oder wurden entwaffnet, im Mathäser wählten sie einen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat, in der Nacht sammelten sie sich im Landtag, wo Eisner erklärte: „Der, der in diesem Augenblick zu Ihnen spricht, setzt Ihr Einverständnis voraus, dass er als provisorischer Ministerpräsident fungiert.“ Ludwig III. floh in derselben Nacht aus der Stadt, die Wittelsbacher Monarchie war am Ende, Bayern „Freistaat“. Die neue Regierung führte bald das Frauenwahlrecht ein, Tarifverträge, ein Betriebsrätegesetz, den Acht-Stunden-Tag, uneingeschränktes Versammlungsrecht, freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift.
Püschel hat Weidermanns Reportage über Eisner, Graf, Erich Mühsam, Rainer Maria Rielke, Ernst Toller und die anderen vor allem in den Cafés und Salons München-Schwabings politisierenden Dichter gelesen, hat sogar auf dem Poesie-Portal signaturen-magazin.de einen Essay veröffentlicht, in dem er lobt, wie die Lektüre den „heißen Atem“ der revolutionären Ereignisse spüren lasse, wie diese „nach all der Erschöpfung der elenden Kriegsjahre eine plötzlich freiwerdende Energie erzeugte“.
Jene Energie, wie sie der Romanist Victor Klemperer 1919 in seinem Revolutionstagebuch Man möchte immer lachen und weinen in einem staunend schilderte, etwa anhand eines Abends im völlig überfüllten Saal „beim Trefler in der Sonnenstraße“, wo „wirklich eine bayerische Volksversammlung, ganz offensichtlich aus Arbeitern, Handwerkern, Krämern“ immer wieder minutenlang jubelt, als Ministerpräsident Eisner spricht: „‚Lassen Sie mir nur ein wenig Zeit, nur ein paar Tage noch möchte ich als Ihr Ministerpräsident arbeiten können.‘ Jemand ruft von der Gallerie: ‚Hundert Jahre.‘ Sofort verbeugt sich Eisner mit weit aufschwingender Bewegung des Arms wie ein Bajazzo: ‚Ich werde mich bemühen, Ihrer freundlichen Anregung nachzukommen.‘ Und wieder jubelt das ganze Haus.“
Klemperers Staunen speiste sich aus seiner Beschreibung Eisners: „Ein zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen. Dem kahlen Schädel fehlen imposante Maße, das Haar hängt schmutziggrau in den Nacken, der rötliche Vollbart wechselt ins Schmutziggraue hinüber, die schweren Augen sehen trübgrau durch Brillengläser. Nichts Geniales, nichts Ehrwürdiges, nichts Heroisches ist an der ganzen Gestalt zu entdecken, ein mittelmäßiger verbrauchter Mensch, dem ich mindestens 65 Jahre gebe, obschon er noch ganz im Anfang der Fünfzig steht.“ – „Eisner war Redakteur am Berliner Vorwärts gewesen, war (für viele Bayern ein Synonym) ‚Preiß und Jud‘; wie kam dieser Münchner Enthusiasmus zustande?“, fragte Klemperer.
Gestern Politik, heute Twitter
Die vielleicht beste Antwort darauf findet sich in einem dritten Buch, Der kurze Traum vom Frieden, veröffentlicht Anfang 2018 vom Münchner Autor und Maler Günther Gerstenberg. „Seine Dokumentation macht deutlich, dass die Revolution keineswegs nur das Werk einiger Schwabinger Idealisten und Träumer war“, schrieb der Rezensent Wolfgang Görl in der Süddeutschen Zeitung. „Da waren auch noch, ja, vor allem die Arbeiter, die Soldaten und die für den Frieden und ihre Rechte kämpfenden Frauen. Und wenn man ihre Geschichte liest, staunt man als Zeitgenosse des Twitter-Schwachsinns, wie ernsthaft politisch es damals zuging.“
Gerstensbergs Buch nimmt die Vorgeschichte der Revolution, die Zeit zwischen 1914 und 1918 in München in den Fokus. Er schildert die ersten Hungerrevolten, die Wut der zu Tausenden um Lebensmittel anstehenden Frauen, das Politisieren in den Wirtshäusern, auch die Rolle der aus dem Ruhrgebiet zugewanderten Arbeiter, die in den relativ jungen Industriebetrieben Münchens anheuerten, und zwar organisiert, aber in lokalen Gewerkschafts- und SPD-Zirkeln nicht schon ewig verwurzelt waren. Das erleichtert hiesigen Mitbegründern der USPD wie Eisner die Mobilisierung von Widerstand gegen eine SPD, die von ihrer Kriegstreue gegenüber dem Kaiser nicht lassen wollte. Die „mit ihrer Parteiräson über Jahre jede spontane Bewegung erstickt und loyale Partei-‚Soldaten‘ ohne Eigensinn und Eigeninitiative herangezogen“ habe, „deren zentrales Mantra ‚Geschlossenheit‘ die Organisation zum Fetisch machte“. Die Streiks in den Rüstungsbetrieben Anfang 1918 konnten die Loyalisten noch ersticken, Eisner landete im Gefängnis.
Doch bald kam er frei und profitierte auch von einer Stimmung, die Gerstenberg wie folgt beschreibt: „Der Kaiser und die Preußen, so die weit verbreitete Meinung, sind Schuld an den unerträglichen Zuständen und auch die Loyalität zum bayrischen König, der ‚dem Kaiser in den Arsch kriecht‘, schwindet rapide.“
Bei Dieter Püschel klingt das ähnlich: „Wer in Bayern aufs falsche preußische Pferd setzt, muss sich nicht wundern, wenn das Unheil seinen Lauf nimmt“, sagt er über den letzten bayrischen König. Er steht jetzt dort, wo Kurt Eisner, das nächste preußische Pferd, ermordet wurde, in der Kardinal-Faulhaber-Straße, 1952 nach dem damaligen Erzbischof von München und Freising benannt, der voller Hass gegen Eisner und die Seinen sowie für den Krieg predigte. Eine Bodenplatte, die die Umrisse des niedergeschossenen Eisners zeigt, ist hier seit 1989 eingelassen, im Gegensatz zu den Schaufenstern der edlen Modeboutique zieht sie kaum Blicke auf sich. Fünf Gehminuten sind es zum früheren Versammlungsort der antisemitischen Thule-Gesellschaft, zu der Anton Graf von Arco auf Valley unbedingt gehören wollte. „Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter“, schrieb er, bevor er den Mann erschoss, der gerade auf dem Weg war, um im Landtag nach 100 Tagen statt nach 100 Jahren seinen Rücktritt als Ministerpräsident zu verlesen; 2,53 Prozent hatte die USPD bei den Wahlen am 12. Januar 1919 erhalten.
Blumen, Kerzen und Bilder stehen hier gleich um die Ecke zuhauf – aber für Michael Jackson, vor dem Hotel, in dem der Popstar bei Konzerten in München abstieg.
„Ich wundere mich immer wieder aufs Neue darüber, dass ausgerechnet ein waschechter Preuße und Jude, der den preußischen Obrigkeitsstaat als Inbegriff eines undemokratischen Machtstaates hasste wie die Pest, in München zum Volkshelden wurde“, sagt Dieter Püschel. „Nach wie vor bin ich der festen Überzeugung, dass dieses Erstaunen eines Tages für mehr Gerechtigkeit sorgen wird.“
Info
Man möchte immer weinen und lachen in einem Victor Klemperer Aufbau 2016, 263 Seiten, 19,95 €
Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen Volker Weidermann Kiepenheuer & Witsch 2017, 288 Seiten, 18,99 €
Der kurze Traum vom Frieden Günther Gerstenberg Verlag Edition AV 2018, 453 Seiten, 24,50 €
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