„Es fehlt eine Vernetzung von unten“

Im Gespräch In Europa sind sich bisher vor allem die Eliten nähergekommen, kritisiert der Soziologe Helmut Anheier. Aber das lässt sich ändern

Der Freitag: Herr Anheier, wo liegt Europas Pro­blem?

Helmut Anheier:

Wir haben es nicht geschafft, ein pan-europäisches Bewusstsein zu schaffen. Europas Eliten sind zusammengekommen, auch die der Zivilgesellschaft. Die Spitzen deutscher Wohlfahrtsverbände oder Stiftungen treffen ihre Kollegen aus Frankreich oder Groß­britannien. Doch was fehlt, ist eine wirkliche Vernetzung von unten.

Sollen nicht Programme wie Erasmus für Studierende oder Städtepartnerschaften gerade das schaffen?

Ja, aber was diese Programme eint, ist ihre Ausrichtung auf die Mittelklasse. Städtepartnerschaften zum Beispiel: Viele davon wurden Anfang der 1970er gegründet. Bis heute treffen sich dort immer wieder dieselben Personen und Zirkel. Man wird gemeinsam alt, vielleicht kennen sich die Kinder noch. Die Frage ist: Wie kann man da neues Leben reinbringen?

Haben Sie eine Idee?

Vielleicht müssen es nicht immer große Städte sein: Berlin-Neukölln und Clichy-sous-Bois bei Paris haben einen regen Austausch begonnen – beides sind Problembezirke, das ist ein interessanter Ansatz. Solche Programme müssen aber dezentral, von der Zivilgesellschaft initiiert werden. Ich bin gegen eine Finanzierung und Steuerung durch die EU.

Von der EU finanziert und gesteuert wird das Erasmus-Programm, mit dem Studierende einige Semester im europäischen Ausland verbringen können.

Ja, da gilt dasselbe: Überhaupt Zugang zur Universität zu erhalten ist für das Kind eines Beamten viel wahrscheinlicher als für das Kind eines kleinen Angestellten – von der Unterschicht ganz zu schweigen. Deutschland ist hierfür ein besonders krasses Beispiel. Diese soziale Ungerechtigkeit verstärkt sich dann in Austauschprogrammen wie Erasmus noch einmal.

Inwiefern?

Für Erasmus bewerben sich vor allem Vertreter der oberen Mittelschicht. Da setzt sich die Zugangshürde fort, denn wenn jemand aus einem sozial schwächeren Hintergrund an die Universität kommt, dann braucht der viel mehr Studienberatungsangebote und Begleitung. Erasmus gilt zwar als ein Instrument, die Jugend Europas zusammenzubringen. De facto erreicht es aber nur einen bestimmten Teil dieser Jugend.

Europas Jugend kommt aber trotzdem zusammen. Aktuelles Beispiel: Die Occupy-Bewegung, da campen und demonstrieren junge Spanier, Franzosen und Belgier zusammen in Brüssel und Cannes, beim G20-Gipfel.

Frustration spielt dabei eine große Rolle, gerade bei den Jugendlichen, die nicht einmal die Aussicht auf einen Job haben, etwa in Spanien und Griechenland. Bisher äußert sich das nicht in einer Botschaft, was die Bewegung will. Trotzdem sehe ich da den Beginn einer neuen Diskussion über Gerechtigkeit, die Grenzen überschreitet. Das ist das interessante politische Potenzial der Occupy-Bewegung.

Birgt sie das Potenzial, eine europaweite Zivilgesellschaft zu begründen?

Die letzte Barriere dafür bleibt der Adressat: Anliegen, die Gruppen wie die Occupy-Leute haben, werden immer noch zu stark von den nationalen Parlamenten umgesetzt. Wenn die Ansprechpartner aber letztendlich wieder in Berlin und Paris sitzen, dann wird sich auch die Zivilgesellschaft nicht nach Brüssel oder Straßburg ausrichten.

Vom kommenden Jahr an können die Europäer immerhin staatenübergreifende Bürgerinitiativen starten.

Sicher erleichtert so etwas ­zivilgesellschaftlichen Gruppen, sich über ­Grenzen hinweg zu organisieren, zu finanzieren, aktiv zu werden. Doch wirklich auf ­Europa ausrichten werden sich die Bürger nur, wenn die europäischen Institu­tionen, insbesondere das Parlament, wichtiger ­werden.

Aber schon jetzt gibt es doch Themen mit klarer europäischer Dimension, Asyl-Politik zum Beispiel, die „Festung Europa“.

Tatsächlich steht Brüssel da im Zentrum. Aber die emotionalen Verknüpfungen des Themas Asyl sind ungünstig: Sie sind da schnell in der Defensive und müssen das Recht auf Asyl gegen sehr platte Reflexe all jener verteidigen, die sich durch Migration bedroht sehen. Für erfolg­reiche politische Bewegungen ist eine offen­sive, proaktive Verbindung von verschiedenen Politik­feldern wichtig.

Wie wäre es mit dem Thema Datenschutz?

Ein zu kompliziertes Feld. Es muss einfach sein, die Leute müssen es verstehen können.

Haben Sie einen Vorschlag?

Den Umgang mit dem ­demografischen Wandel mit einer richtigen Beschäftigungspolitik zu ­verbinden, das wäre was: Beides ist inhaltlich eng miteinander verknüpft, und man kann gute Vorschläge machen, wenn man Europa insgesamt ins Blickfeld nimmt. Fach­kräftemangel am einen, Überalterung am anderen Ort und gleichzeitig hohe ­Arbeitslosigkeit wie etwa in Spanien. Oder Umwelt- und Energiepolitik, da können wir den zivilgesellschaftlichen Aktionsgeist auf europäischer Ebene mit den infrastrukturellen Aufgaben verknüpfen, um etwas Positives zu schaffen.

(Montage: Felix Velasco für der Freitag. Material: F. Twitty und M. Arican/ IStockphoto, M. Jurkovic/ Fotolia.com)

Helmut K. Anheier ist Soziologe und Dekan der Hertie School of Governance in Berlin. Derzeit forscht er zu den Zusammenhängen von Globalisierung, Zivilgesellschaft und Kultur


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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