„Viele Länder sind uns demografisch auf den Fersen“

Im Gespräch Die deutsche Angst vor dem Aussterben hat Tradition, sagt der Demografieforscher Ralf Ulrich. Zuwanderung allein kann das Problem nicht mehr lösen

Der Freitag: Herr Ulrich, in welchem Jahr ist der Aufsatz mit dem folgenden Titel entstanden: „Über den Geburtenrückgang, seine Ursachen und die gesetzgeberischen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung“?

Ich würde vermuten: 1930.


1911. Der Gynäkologe Max Hirsch hat ihn geschrieben.

Immerhin war ich nahe dran. Die Furcht, dass die Deutschen aussterben, ist nicht neu. In den vergangenen 100 Jahren gab es drei Wellen der öffentlichen Beschäftigung mit dem Thema Geburtenrückgang: Zunächst Anfang des 20. Jahrhunderts, dann in den Siebzigern. In der dritten Welle befinden wir uns heute.


Warum beschäftigen wir uns immer wieder mit rückläufigen Geburtenzahlen?

Weil Menschen heute wie vor 100 Jahren individuell entscheiden, wann sie wie viele Kinder bekommen. Der Staat und andere Institutionen können nur indirekt eingreifen. Wie wirkungsvoll solch ein Eingreifen ist, hängt von vielen individuellen, biografischen Bedingungen ab. Damals wie heute ist jedoch die öffentliche Erwartungshaltung die gleiche: Die Regierung soll das Problem möglichst schnell lösen.


Ist diese Forderung nicht damals wie heute vor allem eins: Panikmache?

Na ja, eine Erhöhung der durchschnitt­liche Kinderzahl, etwa auf 1,7 Kinder je Frau, würde langfristig schon eine deutliche Entlastung bringen: Für den Arbeitsmarkt, für die sozialen Sicherungs­systeme, für das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungs­empfängern.


Dann sieht es ja gut aus: „Deutsche Frauen bekommen wieder mehr Kinder“, berichteten die Medien Anfang des Monats.

Da wurden Forschungsergebnisse offenbar missverstanden. Frauen in Deutschland bekommen Kinder heute biografisch später als vor zehn oder 30 Jahren. Man kann die Kinderzahl so kalkulieren, dass der Effekt dieser Verschiebung herausgerechnet wird und kommt dann auf 1,6 Kinder pro Frau, statt der vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen 1,4. Aber der Vergleich der beiden Zahlen liefert keine Aussage über einen Anstieg. Warum wird Demografie als Wissenschaft so oft missverstanden?

Vielleicht, weil die Bevölkerungswissenschaft eine quantitative Makro-Perspektive auf Dinge hat, die letztendlich sehr individuell entschieden werden. Daher können Diagnosen zur demografischen Entwicklung Gefahr laufen, in zu kurz gegriffene oder undemokratische Politiken umgesetzt zu werden. In den dreißiger und vierziger Jahren vereinnahmten die Nazis die Bevölkerungswissenschaft und glaubten, durch Gesetze und Mutterkreuze etwas am Geburtenrückgang ändern zu können. Für wenige Jahre schien es, als würde das gelingen. Aber schon vor dem Zweiten Weltkrieg wurde klar, dass dies kein nachhaltiger Erfolg war. Im Rückblick auf solche Entwicklungen zeigt sich oft, dass Paare nicht entschieden hatten, mehr oder weniger Kinder zu bekommen. Sondern nur früher oder später.


Heute versuchen Familienpolitiker, die Menschen mit Elterngeld und Kita-Ausbau vom Kinderkriegen zu überzeugen. Ist das vergebene Mühe?

Vollkommen vergeblich ist das sicher nicht. Aber in den USA etwa gibt es überhaupt keine Familienpolitik, und trotzdem liegt die Kinderzahl bei 2,1.


Woran liegt das

Jeder US-Amerikaner weiß, dass die Frage, wie gut er im Alter lebt und ob er dann Unterstützung bekommt, ganz wesentlich auch davon abhängt, ob er eigene Kinder hat. In Deutschland und Europa haben die Bismarckschen Reformen die Illusion geschaffen, dass der Staat für die Alterssicherung und für die Krankenversicherung in alle Ewigkeit verantwortlich ist. Und dass darauf keinen Einfluss hat, wie viele Kinder man bekommt oder ob man überhaupt Kinder bekommt. Durch den demografischen Wandel ist uns die Verletzlichkeit unserer sozialen Sicherungssysteme bewusst geworden.


In den siebziger Jahren löste Zuwanderung das Problem.

Aber nur kurzfristig. Damals konnte man durch Zuwanderung nach Deutschland das Geburtendefizit als Phantomproblem abtun und hoffte, dass sich die Angelegenheit in Zukunft irgendwann von selbst lösen würde. Jetzt besteht diese Option nicht mehr.


Warum nicht?

Wir sehen das demografische Problem gern als deutsche Besonderheit. Tatsächlich aber geht es um einen globalen Prozess. Um einen Übergang von Gesellschaften mit hoher Sterblichkeit und hoher Fertilität zu Gesellschaften mit langer Lebenserwartung und geringer Kinderzahl. Deutschland ist, neben anderen Ländern wie Japan, dabei am weitesten fortgeschritten.


Kennt nicht jeder die Lösung? Deutschland braucht mehr Zuwanderung.

Für viele scheint es da immer noch eine Denkbarriere zu geben. Das rührt natürlich von der lang anhaltenden Verleugnung her, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Später realisierten wir, dass es sehr teuer ist, die in der Vergangenheit versäumten Integrationsanstrengungen, Sprachkurse etwa, nachzuholen. Das hat in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung von Zuwanderung als problematischer Sache verankert.


Aber das ändert doch nichts an der Notwendigkeit ...

Nein, aber so einfach ist das nicht mehr. Wir können in Zukunft nicht mehr sagen: Dann machen wir halt die Tür auf und alle Fachkräfte, wie wir sie brauchen, kommen aus dem Ausland zu uns. Denn zahlreiche Länder sind uns demografisch ziemlich auf den Fersen, vielerorts beginnt in den nächsten Jahren der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. In China wird das in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eintreten. Aber schon viel früher wird China beginnen, Fachkräfte international anzuwerben. Für skandi­navische Länder oder die Schweiz ist Deutschland längst ein wunderbares Herkunftsgebiet für qualifizierte Fachkräfte.


Bleiben uns die panischen Aufschreie wegen niedriger Geburtenzahlen also auch in Zukunft erhalten?

Das Problem ist jedenfalls sehr prominent geworden. Nach den bisherigen Wellen demografischer Erregung ist das Interesse nach gewisser Zeit abgeflaut. Aber jetzt ist die Knappheit von quali­fizierten Arbeitskräften doch deutlich spürbarer. Nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch für Gewerkschaften und Kommunen. Der demografische Wandel ist heute viel tiefer in der Gesellschaft angekommen als in den siebziger Jahren.


Ralf E. Ulrich
ist Direktor des Instituts für Bevölkerungs- und Gesundheitsforschung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Er war Mitglied der Expertenkommission Demografischer Wandel in Sachsen des Freistaats Sachsen. 1999 schrieb Ulrich im Freitag über Bevölkerungspolitik, anlässlich der Geburt des sechsmilliardsten Menschen

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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