Arm ab? Oder Bein ab?

Troika Das Rentensystem in Griechenland hat Reformen nötig. Doch neue Kürzungen würden die Not vergrößern
Ausgabe 35/2015
Jeder zweite Haushalt würde ohne Rentenzahlungen nicht über die Runden kommen
Jeder zweite Haushalt würde ohne Rentenzahlungen nicht über die Runden kommen

Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Giorgos Chatzifotiadis ist wohl der berühmteste Rentner Griechenlands in der Welt. Anfang Juli saß er weinend vor einer Bank in Thessaloniki: weiße Haare, blau-weiß gestreiftes Hemd, im Gesicht die pure Verzweiflung. Alle Medien zeigten den 77-Jährigen und einer Nachrichtenagentur erzählte er den Grund für die Tränen: Seine Frau ist krank, er brauchte Geld, gerade hatte ihn die vierte Bank abgewiesen. Die Szene ist Sinnbild für die Trockenlegung des Landes durch die Europäische Zentralbank (EZB).

In deren Folge sah sich Alexis Tsipras zur Unterzeichnung des dritten Memorandums gezwungen – und damit zum Versprechen neuer Einsparungen im Rentensystem. Die Auseinandersetzung damit wird im beginnenden Wahlkampf zwangsläufig ein zentrales Thema sein, nicht nur weil 20,5 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre sind und das in der EU nur von Italien und Deutschland übertroffen wird. Sondern vor allem, weil inzwischen jeder zweite griechische Haushalt von Rentenzahlungen abhängt, um über die Runden kommen zu können. Für Chatzifotiadis selbst hatte seine Berühmtheit unverhoffte Folgen: Ein australischer Finanzmanager mit griechischen Wurzeln sah sein Bild im Internet, fand in ihm einen alten Schulfreund seines Vaters wieder und kündigte an, nach Griechenland zu fliegen, um Chatzifotiadis Geld zu geben, ja sogar „so lange wie nötig“ seine Rente zu zahlen.

Übertragen auf Griechenlands gesamtes Rentensystem ist das Modell des Australiers das Schlimmste, was sich die Vertreter von EZB, Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischem Stabilitätsmechanismus an Alterssicherung vorstellen können. Ein Füllhorn, aus dem es Geld regnet – egal ob die Empfänger berechtigte Ansprüche erworben haben.

Bakterien auf Mikrofonen

Für Griechenlands Kreditgeber ist das griechische Rentensystem in der Vergangenheit genau ein solches – staatliches – Füllhorn gewesen, und damit so ungerecht wie ineffizient. Sie haben recht. Die Vielzahl an unterschiedlichen Versicherungsträgern (133) und das Gesetzesdickicht der Ausnahmeregelungen etwa waren zwei Folgen der klientelistischen Struktur des griechischen Staates in der Vergangenheit. Oder glaubt irgendwer, TV-Moderatoren durften tatsächlich zu günstigen Konditionen in Frührente gehen, weil sich auf ihren Mikrofonen so viele Bakterien tummeln?

Doch darum ging es nicht, als im Juni FAZ und Bild das griechische Rentensystem in Deutschland zur öffentlichen Debatte stellten: Deutsche gehen mit 64, Griechen mit 56 in Rente – beide Zahlen stimmen nicht, aber bald schon durfte sie der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach bei Jauch wiederholen. Keiner dort korrigierte ihn, obwohl in der Woche zuvor Offenlegungen der Recherchefehler breiten Widerhall in sozialen Medien gefunden hatten.

Laut OECD betrug 2012 das durchschnittliche Renteneintrittsalter von Frauen in Deutschland 61,6 Jahre, in Griechenland 60,3. Bei deutschen Männern sind es 62,1 Jahre, bei griechischen 61,9.

Wie nah die OECD-Berechnungen der Realität auch sein mögen – in der idealen Welt vieler Ökonomen würde weder in Deutschland noch in Griechenland irgendjemand in Rente gehen, bevor sie oder er 67 Jahre alt ist. Längst haben Syrizas Vorgängerregierungen das gesetzliche Renteneintrittsalter in Folge der ersten beiden Memoranden auf ebendiese 67 Jahre erhöht. Sie schufen dabei Übergangsregelungen für Altfälle, etwa für die vielen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, denen in Folge der Kürzungspolitik die Entlassung drohte und die sich in den Frühruhestand retten konnten. Das lässt sich wiederum als klientelistisches Zugeständnis etwa der einstigen sozialdemokratischen Regierung an ihr loyale Beamte lesen. Oder aber als soziale Sicherungsmaßnahme im Angesicht einer kollabierenden Wirtschaft, einer explodierenden Arbeitslosigkeit, dem Auslaufen jeglicher Sozialhilfe nach einem Jahr ohne Job und einer wachsenden Anzahl von Familien, die deshalb überhaupt kein Einkommen mehr beziehen.

Die so gestiegene Zahl der Frührentner, die eingebrochenen Beitragszahlungen in Folge von um 30 Prozent gesunkenen Löhnen und Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt die zwölf Milliarden Verlust, die die Schuldenumstrukturierung 2012 für die Rentenversicherungen bedeutete, ließen deren Defizit auf neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Wenn nun das neue Memorandum für 2016 Einsparungen im Rentensystem von einem Prozent vorsieht, dann würde dies nichts anderes bedeuten als neue Rentenkürzungen, schreibt Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis.

Bereits im Juli hat das Parlament in Athen unter anderem die Krankenversicherungssätze für Rentner erhöht, die Zusammenlegung von Versicherungsträgern angeordnet und für alle, die nach dem 30. Juni in Rente gehen, die Höhe ihrer Renten strikt an geleistete Beitragszahlungen gekoppelt. Doch für das Erreichen des Sparziels wird faktisch eine neue Kürzungsrunde bei den Rentensätzen nötig und dann nach den Neuwahlen, im Oktober, fällig sein. Zwar stellen Griechenlands Kreditgeber in Aussicht, alternative Vorschläge der Regierung zu prüfen und Tsipras will eine Expertenkommission ebensolche ausarbeiten lassen. Varoufakis aber übersetzt den entsprechenden Passus im Memorandum wie folgt: „Will die griechische Regierung ihren Rentnern nicht die Arme amputieren, dann wird die Troika Vorschläge prüfen, ihnen stattdessen die Beine abzunehmen.“

In einem Land, wo die Renten in den vergangenen Jahren um bis zu 50 Prozent gekürzt worden sind, fast die Hälfte der Rentner weniger als das Existenzminimum von 665 Euro pro Monat erhält und die Arbeitslosigkeit der 55- bis 64-Jährigen von sechs auf 20 Prozent gestiegen ist, werden neue Kürzungen nicht nur größere Not bedeuten. Sondern auch, zusammen mit Erhöhungen der Mehrwertsteuer und des Krankenversicherungsbeitrags, verhindern, dass von irgendwoher das kommt, was für eine Erholung der Volkswirtschaft so wichtig wäre: eine Stärkung der Nachfrage.

Zwar stellt das Memorandum zur Absicherung der Ärmsten die Einführung einer Grundsicherung für Griechenland in Aussicht – geknüpft an Bedingungen wie die Teilnahme an Arbeitsvermittlungsmaßnahmen. Woher aber das Geld hierfür kommen soll, bleibt offen. Denn wenngleich Rückzahlungsfristen gestreckt und Zinssätze gesenkt werden – der Schuldendienst bleibt ja oberste Priorität für eine Regierung, die sich an die Vereinbarungen mit den Kreditgebern gebunden fühlt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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