Wütend ist die Italienerin im Hafen Lampedusas, sie schreit in Richtung des Schiffes, der Sea-Watch-3, und all der TV-Kameras, nennt Kapitänin Carola Rackete eine „Komplizin von Menschenhändlern“, die „armen Migranten“ sollten ruhig von Bord gelassen werden, aber Racketes Unversehrtheit könne sie nicht garantieren.
Im knallvollen Kino Babylon in Berlin-Mitte wurde am vergangenen Sonntag jene Nacht noch einmal lebendig: die auf den 29. Juni 2019, als Rackete die Sea-Watch-3 mit 40 Geretteten in den Hafen steuerte, obwohl ihr das die Küstenwache strikt verboten hatte, auf Grundlage der vom damaligen Innenminister Italiens, Matteo Salvini, verfügten Kriminalisierung von Seenotrettung. Ein Film-Duo des NDR zeigt seine Doku SeaWatch3, demnächst auch in der ARD-Mediathek zu sehen: mehr als zwei Wochen des Ausharrens auf dem Schiff, die unerlaubte Einfahrt in den Hafen, die Wut der Frau, aber auch der Jubel anderer dort. Nach der Vorführung sitzt Rackete auf dem Podium – schon bald kommt das Gespräch auf Horst Seehofer.
Staatliche Rettungsboote: null
Nicht nur Seenotretterinnen rätseln über die jüngsten Initiativen des Bundesinnenministers: Trifft sich mit seiner neuen italienischen Amtskollegin, reist nach Malta und vereinbart mit der dortigen Regierung sowie Italien und Frankreich einen „Vorübergehenden Notfallmechanismus für Seenot-Rettungsfälle“ inklusive 25-Prozent-Aufnahmequote Deutschlands, als Diskussionsgrundlage für den Gipfel der EU-Innenminister diese Woche, hält seinen Unions-Kritikern entgegen: „Es ist unglaublich, dass man sich als Bundesinnenminister für die Rettung von Menschen vor dem Ertrinken rechtfertigen muss.“
Geht es Seehofer dabei einzig um seinen narzisstisch konnotierten „Seelenfrieden“, wie die Süddeutsche Zeitung suggeriert? Oder will er per Rettungsmechanismus für die zentrale Mittelmeerroute gen Malta und Italien vom eigentlichen Hotspot der Gegenwart, der östlichen Fluchtroute, ablenken, wie Carola Rackete nahelegt?
Tatsächlich sind Ende September 3.710 Menschen aus der Türkei in Griechenland angelandet – die meisten innerhalb einer Woche, seit es das Abkommen der EU mit Ankara gibt, vor allem Afghanen. Auf mehr als 46.000 beläuft sich die Gesamtzahl der Ankünfte aus der Türkei in der EU in den ersten neun Monaten 2019, gegenüber dem Vorjahreszeitraum eine Steigerung um 23 Prozent, zitiert die Welt aus einem internen Bericht der EU-Kommission. Die sich zuspitzende Lage in Syrien lässt weitere große Fluchtbewegungen erwarten.
Wenn Seehofer davon ablenken wollen würde – warum hätte er dann dieser Tage öffentlichkeitswirksam nach Griechenland und in die Türkei reisen sollen, um eine stärkere Berücksichtigung der Interessen der Außengrenzstaaten anzumahnen? Sein Ministerium prüft derzeit Griechenlands Bitte um Unterstützung mit Polizeibooten.
Diese würden unhaltbare Zustände in Flüchtlingslagern wie Moria zwar nicht direkt lindern, immerhin aber rückt Seehofer die Lage an den Außengrenzen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein. Was, wenn dies schlicht Resultat eines Erkenntnisprozesses ist? Viele werden ihm den nicht zugestehen und auf verbale Entgleisungen – Migration als „Mutter aller Probleme“, „Herrschaft des Unrechts“, langes Festhalten an Hans-Georg Maaßen – verweisen.
Doch es könnte lohnen, Seehofers Einsicht für möglich zu halten, nach einer bleiernen Zeit, in denen gerade Konservative wie er verzweifelt nach einer Antwort auf steigende Flüchtlingszahlen und deren erfolgreicher Instrumentalisierung durch die AfD suchten. So, wie sich CSU-Chef Markus Söder mit seiner neuen Fokussierung auf die Klimapolitik gegen die Verluste seiner Partei an die Grünen stemmt, mag sein Vorgänger erkannt haben, dass über ein rhetorisches Wetteifern mit der AfD nichts zu gewinnen ist, vor allem nicht angesichts wiederkehrender Bilder von vor der Küste ausharrenden Schiffen und Retterinnen wie Rackete, die daheim in Deutschland gerade auch unter Christen großen Rückhalt genießen. Rackete wurde im Juni in Italien verhaftet. Sie ist frei, aber das Verfahren läuft, eine Folge der kurzen Salvini-Ära. Wenn diese, auf Wählerinnen wie die Wütende in Lampedusa gestützt, keine Fortsetzung finden soll, darf die neue Regierung aus Fünf Sternen und Sozialdemokraten nicht bald schon wieder implodieren. Dafür muss in Europa jetzt etwas passieren – der Notfallmechanismus ist ein Anfang. Rund 12 Staaten signalisierte beim EU-Ministerrat am Dienstag, es sei denkbar, dass sie sich dem Malta-Quartett anschließen.
Worüber indessen auch Horst Seehofer nicht spricht: Auf dem Mittelmeer kreuzen derzeit nur drei zivile Rettungsboote – und weiter kein einziges staatliches. Es ist kaum eines da, das Katastrophen wie die am Montag verhindern kann: Vor Lampedusa kenterte ein Schlauchboot, mindestens 13 Menschen ertranken.
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