Ausnahmezustand in der Praxis

Israel Der Beschuldigte Benjamin Netanjahu wehrt sich mit allen Mitteln gegen ein Korruptionsverfahren. Wegen der Corona-Pandemie wird nun sein Gerichtstermin verschoben
Benjamin Netanjahu muss erst einmal nicht vor Gericht erscheinen
Benjamin Netanjahu muss erst einmal nicht vor Gericht erscheinen

Foto: Sebastian Scheiner - Pool/Getty Images

In der Nacht von Samstag auf Sonntag um 1 Uhr, gleich nach Schließung der Redaktionsräume aller Zeitungen in Israel, veröffentlichte der vorläufige israelische Justizminister, ein enger Vertrauter Benjamin Netanjahus, eine Verordnung über die Verhängung eines Ausnahmezustandes im israelischen Gerichtswesen. Wegen der Verbreitung des Coronavirus' im Land, bereits 200 Infizierte sind gemeldet, müssen drastische Maßnahmen unternommen werden, hieß es aus Regierungskreisen.

Wie praktisch. An diesem Dienstag hätte das Gerichtsverfahren gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu am Jerusalemer Landesgerichtshof offiziell beginnen sollen.Nun wurde der Gerichtstermin erst einmal auf Ende Mai verschoben. Der vorläufige Regierungschef kann jetzt weiter nach einer parlamentarischen Mehrheit suchen – ohne offiziell als Angeklagter zu gelten.

Worum geht es? Netanjahu werden Bestechung, Betrug und Veruntreuung in drei Fällen vorgeworfen. Neben ihm auf der Anklagebank hätten Noni Moses und Shaul Elovitch sitzen sollen, zwei der wichtigsten Medienmogule des Landes. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft vor, Netanyahu bestochen zu haben. Damit hätte sich zum ersten Mal in der Geschichte Israels ein amtierendes Staatsoberhaupt dem Gericht stellen müssen – ein historischer Moment. Aber auch ohne Corona wäre der Premier zur Vorlesung der Anklageschrift in dem schlichten Steingebäude des Gerichts an der Salah ad-Din-Straße im Osten der Stadt wahrscheinlich nicht erschienen. Noch bevor das Ausmaß der Epidemie klar war, baten die Anwälte von Netanjahu darum, ihren Mandanten von der Erscheinungspflicht zu befreien und den Gerichtstermin zu verschieben. Angeblich hätten sie nicht alle Dokumente der Staatsanwaltschaft bekommen.

Netanjahus Strategie

Ein Ausblick auf die Verteidigungsstrategie des Premiers – sein Plan ist es, den Prozessverlauf so weit wie möglich zu verlangsamen. Die Aussicht, dass die vorsitzende Richterin ihn freisprechen würde, ist aufgrund ihrer strengen Urteile gegen korrupte Politiker, wie den ehemaligen Premierminister Ehud Olmert, eher gering. Deshalb will Netanjahu vor allem Zeit kaufen, um sich durch politische Tricks Immunität zu erschleichen.

Die andauernde Regierungskrise, die längste in der Geschichte des Landes, wurde auch nicht durchdie Wahlen vor zwei Wochen– die dritten innerhalb eines Jahres – gelöst. Das Lager um Netanjahu, aber auch seine Gegner scheinen nach dem Wahlergebnis unfähig zu sein, eine Mehrheit zu finden. Der einzige Grund dafür liegt in den zahlreichen Verstrickungen von Netanjahu und seinem nahen Umkreis in illegalen Geschäften und Abmachungen. Die führende Oppositionspartei Blau-Weiß unter Benny Gantz,die sich in wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Fragen kaum von der Regierungspartei unterscheidet, weigert sich noch standhaft, eine wie auch immer geartete Form der Immunität für den Premierminister zu versprechen. Angesichts der drohenden globalen Lage wächst dennoch der Druck auf die Opposition, ihre rechtsstaatliche Prinzipien aufzugeben und der Einladung von Netanjahu, sich an einer temporären Not-Regierung zu beteiligen, Folge zu leisten.

Stärke der Demokratie

Die Abwägung, obdie Korruption, die sich in den letzten Jahren unter Netanjahu beträchtlich ausdehnte, nicht etwas weniger gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist als das sich ausbreitende Coronavirus, beschäftigt zur Zeitdie israelische Öffentlichkeit. Die drei brisanten Fälle, die zur Anklage gebracht wurden, zeichnen ein düsteres Bild eines korrumpierenden und medienbesessenen Machtinhabers aus, der nicht davor scheut, seine eigenen Interessen vor das Gemeinwohl zu stellen. Es geht um teure Geschenke und Geld aus dem Ausland. Und es geht auch um den Versuch, Medienberichte im großen Stil zugunsten Netanjahus und seiner Familie zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu bot der Angeklagte lukrative Begünstigungen durch staatliche Vorschriften oder die Vermittlung von ausländischen Investitionen an.

Netanjahu ist nicht das einzige Regierungsmitglied, gegen das aktuell ermittelt wird. Seine Innen-, Gesundheits- und Wohlfartsminister wurden alle im letzten Jahr von der Polizei der Korruption verdächtigt. Als Erster unter Gleichen wirkt sein Fall besonderes wichtig für die Bekämpfung der Kriminalität im Land. Dass die Staatsanwaltschaft, trotz Drohungen und Hetze aus dem rechten Lager weiterhin gegen hochrangige Politiker ermittelt, kann als Zeichen der Stärke der israelischen Demokratie, zumindest in den Grenzen von 1967, wahrgenommen werden.

Eine Aussetzung oder sogar Aufhebung des Gerichtsverfahren aufgrund des jetzigen Ausnahmezustands erschüttert schon jetzt die Fundamente des Landes. Sogar der stramm rechte Politiker Moshe Yaalon, der unter Netanjahu Verteidigungsminister war, warnte angesichts der „zynischen Instrumentalisierung der Corona-Krise für die persönlichen Zwecke eines Beschuldigten“ davor, dass Israel zu einem Staat wie „Erdogans Türkei“ werden könnte.

Tatsächlich sieht es so aus, als ob das erste Opfer des Coronavirus in Israel der Rechtsstaat sein wird. Ob die zerstrittene Opposition ihn noch retten kann oder will, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

Yossi Bartal wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 2006 als freier Autor in Berlin-Neukölln. 2018 gab er dem Freitagdieses Interview über den schmalen Grat zwischen Antisemitismus, Israelhass und Solidarität mit Palästinensern in Deutschland

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Geschrieben von

Yossi Bartal | Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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