Ist dies nun das Ende des „Thüringer Wegs“? Lokales Vorgehen gegen lokale Ausbrüche, so hatte es Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) in Sachen Corona gehalten, vor der Ministerpräsidentïnnenkonferenz vergangene Woche noch wollte er einen Lockdownbeschluss ohne Parlamentsbeteiligung nicht mittragen. Jetzt aber sind auch in und um Erfurt Theater, Museen und Restaurants geschlossen.
der Freitag: Herr Ramelow, Sie haben jüngst Hölderlin zitiert: „Wer nicht zweifelt, wird nicht überzeugt.“ Was soll das sagen?
Bodo Ramelow: Dass man die Dinge, die man jeden Tag tut, auch zweifelnd hinterfragen muss, um sicher zu sein, dass was man tut, auch wirklich richtig ist.
Vor der jüngsten Konferenz der Länderchefs mit der Kanzlerin hatten Sie Zweifel an der Aussicht auf einen erneuten Lockdown ...
Nicht an der Aussicht, an der Art und Weise! Meinem Kabinett konnte ich in dessen Sitzung am Dienstag nicht sagen, was dann am Mittwoch mit der Kanzlerin entschieden werden soll, eine Beschlussvorlage fehlte! So können und dürfen Verfassungsorgane nicht miteinander umgehen, wir sind keine nachgeordnete Dienststelle des Kanzleramtes. Ich habe an dem Dienstag dann dazu mit der Kanzlerin telefoniert, sie hat das auch aufgenommen. Und meine Position – kein erneuter Lockdown ohne Parlamentsbeteiligung – habe ich dann auch in die Beschlüsse hineinbekommen.
Nun ja, als Parlamentsvorbehalt. Erst hat die Exekutive die entsprechende Verordnung erlassen, sie gilt seit Montag, der Landtag hat sie am Dienstag debattiert – und erstmal bestätigt. Ist das nicht Alibi-Parlamentarismus?
Ich habe aus dem Mittwoch heraus die Bitte an den Thüringer Landtag übermitteln lassen, dass wir möglichst am Freitag die Landtagssitzung machen, um die Entscheidung des Parlaments vorher zu haben. Das Parlament sah sich mehrheitlich nicht dazu in der Lage, auch die CDU nicht, die wohl ihren eigenen Antrag nicht gelesen hat, da stand nämlich drin „Kein Lockdown ohne Parlamentsbeteiligung“. Also habe ich in die Verordnung reinschreiben lassen – das hat es nach meinem Kenntnisstand so noch nie gegeben, und unsere Verfassungsrechtler haben uns auch davor gewarnt –, dass sie unter Vorbehalt der parlamentarischen Beratung steht.
Wie groß ist denn Ihr Vorbehalt demgegenüber, dass nun Theater und Restaurants – allesamt mit Hygienekonzepten – wiederum generell schließen mussten?
Ich habe versucht, die Restaurants außen vor zu lassen, habe mit einigen Mitstreitern eine Sperrstundenregelung vorgeschlagen, das ist nicht gelungen. Aber wir waren uns in der Ministerpräsidentenkonferenz in einem alle einig: Wir brauchen ein deutschlandweites Runterfahren der Kontakte, weil das Infektionsgeschehen sich nun derart diffus ausgebreitet hat, dass wir es nicht mehr so einfach einfangen können. Während der Videokonferenz am Mittwoch hatte ich die aktuellen Zahlen bekommen, 280 Neuinfektionen in Thüringen, der vierfache Wert von dem, was wir die Tage vorher hatten, elf von 23 Gebietskörperschaften schon über der Sieben-Tage-Inzidenz von 50, sieben schon nah dran, alle anderen schon bei 35, alle Alarmwerte in Thüringen waren am Mittwoch überschritten. Am Wochenende habe ich dann erstmals von einem Krankenhaus angezeigt bekommen, dass es sich von der Notfallversorgung abmeldet, weil es 30 Mitarbeiterinnen im Pflegebereich nach Hause, in die Quarantäne schicken musste. So gibt es zwar jede Menge Krankenhausbetten, aber nicht genügend Personal, um sie zu betreuen.
Zu wenig Personal ist kein rein akutes, sondern ein seit Jahren bekanntes Problem, nicht nur auf Intensivstationen. Warum reden wir dennoch mehr über Kneipen?
Ich rede immer über den Personalmangel! Deswegen habe ich gesagt, ich will nicht einen einmaligen Sonderbonus für Altenpfleger, sondern einen Tarifvertrag, der deutschlandweit den Pflegeberuf aufwertet und besser bezahlt. Sie haben recht, Corona zeigt uns nur, was vorher schon falsch gelaufen ist. Wir bräuchten ein Bekenntnis zum Gesundheitswesen, zum öffentlichen Gesundheitsdienst Aber wir sollten nicht den Personalmangel gegen die Schließung von Restaurants stellen. Wir wissen von 75 Prozent der Infektionen einfach nicht, wo sie stattfinden. Diese Diffusion war der Grund, am Mittwoch so zu entscheiden.
Aus der SPD heißt es, Ihr Verhalten sei „erratisch“, Bodo Ramelow sei ein „Sicherheitsrisiko“.
Wissen Sie, ich habe 30 Jahre lang die Freude gehabt, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als Sicherheitsrisiko bezeichnet zu werden. Ich finde es atemberaubend, dass man eine derartige Ferndiagnose über die Thüringer Gesundheitssituation trifft. Vor allem nachdem ich die gefassten Kabinettsbeschlüsse zur Grundlage meines Agierens gemacht habe.
Zur Person
Bodo Ramelow, 64, ist seit 2014 Ministerpräsident Thüringens – unterbrochen von der rund einmonatigen Regierungsepisode des von der AfD mitgetragenen Thomas Kemmerichs (FDP) im Februar 2020. Ramelow regiert mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung und punktueller Kooperation mit der CDU. 2021, wohl im April, stehen Neuwahlen an
Aber warum wissen wir nicht, wo die Infektionen geschehen? Weil es im Sommer versäumt wurde, entsprechende wissenschaftliche Begleitung aufzusetzen?
Unser wissenschaftlicher Beirat hat den ganzen Sommer über gearbeitet und sehr viel detailliertes Material vorgelegt, mithilfe dessen wir etwa ein gut funktionierendes Ampelsystem für die Schulen entwickeln konnten, für alle einsehbar im Internet. Über das Virus und seine Infektionswege wissen wir immer noch zu wenig, ja, und auch über so manches andere. Ich habe jetzt mehrfach Sportler mit sehr gut trainierten Körpern getroffen, die sagen: Nachdem sie durch die Krankheit gegangen sind, kommen sie nicht mehr hoch, es fehlt ihnen die Vitalität. Das macht mich unruhig, weil ich nicht weiß, was das eigentlich für eine langfristige Perspektive heißt.
Haben Sie das Papier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und u. a. des Virologen Hendrik Streeck gelesen? Da geht es ja umlangfristige Perspektiven.
Ja, und ich halte die darin aufgezeigte Tendenz für sehr gefährlich.
Warum? Es schlägt vor, nicht auf in ihrer Aussagekraft fragliche Grenzwerte und eh kaum mehr leistbare Nachverfolgung jedes einzelnen Kontakts zu setzen, sondern vor allem Risikogruppen wirklich zu schützen.
Ich weiß, dass meine Gesundheitsämter hart am Limit arbeiten, aber dass sie die Kontaktnachverfolgung gar nicht mehr schaffen, den Befund kann ich für Thüringen nicht bestätigen. Dieses Papier arbeitet mit der Unterstellung, der Großteil der Gesundheitsämter sei nicht mehr handlungsfähig. Das würde ja bedeuten, dass man sich der Situation einfach unterwirft – grundverkehrt! Und wenn ich die Gesellschaft in gesunde, gefährdete und sehr gefährdete Gruppen einteile – was heißt das denn letztendlich? Dass wir unsere Gefährdeten künftig auf Inseln packen und sie mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben sollen? Das ist keine Gesellschaft mehr, in der wir alle zusammenleben können. Und es befördert das Gefühl der Gesunden, der Jungen zu sagen, warum sollen wir Opfer bringen für die Alten? Ich halte diese Tendenz für sehr gefährlich.
Was bedeutet es dann konkret, wenn Sie fordern, wir müssten lernen, mit dem Virus zu leben?
Das heißt, dass wir diese Woche eine große Konferenz machen mit Firmen, die mechanische und technische Antworten geben auf Viren. Schon jetzt sind bestimmte Behandlungsräume in Kliniken mit bestimmten Filtern virenfrei zu halten. Schaffen wir es, so etwas in Serie zu produzieren, also zum Beispiel in Kinosäle einzubauen, in Schulen? Schaffen wir es, dass wir z. B. Türklinken so beschichten, dass da kein Virus, kein Bakterium, kein Keim haften bleibt? Es wird u. a. ein von einer Thüringer Firma entwickelter Krankenwagen gezeigt, der sich mithilfe von UV-Strahlung innerhalb von zehn Minuten selbst desinfizieren kann. Ich bin zutiefst überzeugt, dass uns Sars-CoV-2 noch länger begleitet, und dass in einer modernen, vernetzten und hochmobilen Welt danach das nächste Virus anklopft.
Haben Sie nicht jüngst die starke Fixierung auf Corona beklagt?
Doch, von Anfang an! Die alleinige Fokussierung auf Sars-CoV-2 als einziges Lebensrisiko halte ich für kreuzgefährlich, wenn etwa der, der einen Herzinfarkt hat, nicht in die Behandlung geht. Und an einer Pneumonie sterben täglich 110 Menschen in Deutschland, an einer Sepsis 154, an Lungenkrebs 106, ich war gerade bei Herrn von Hagens in seinen Körperwelten in Greiz, habe mir Raucherlungen angesehen – bin ich froh, seit 30 Jahren von diesem Laster befreit zu sein! Wir müssen dieses aggressive, unklare Virus einordnen in die allgemeinen Lebensrisiken, müssen über sie alle reden, über Prävention, über Hygiene – da haben wir über die Jahre viel verlernt.
Inwiefern?
Ein Fünftel aller Infektionen in Thüringen, die wir nachvollziehen können, fand unter Bedingungen statt, die nicht hätten passieren dürfen. Ich habe Fälle in Dialyse-Praxen, da hat man über lange Zeit verlernt, Hygienestandards einzuhalten, ähnlich in Alten-, Pflegeheimen, Krankenhäusern. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen, nicht etwa Reinigungsarbeit outsourcen, Externe billiger erledigen lassen. Neoliberalismus und Marktgängigkeit stehen der Nachhaltigkeit und Gesundheit im Weg.
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