Carles Puigdemont hätte ja auch in Marseille bleiben können, wohin er die 500 Kilometer mit dem Auto fuhr. Schließlich gibt es dort nicht nur den Plage des Catalans, benannt nach katalonischen Fischern, die sich dort am Mittelmeerstrand im 17. Jahrhundert niederließen und Schauplatz in Alexandre Dumas‘ Roman vom unschuldig eingekerkertem Dantès, der zum Graf von Monte Christo wird. Sondern auch eine große korsische Diaspora, sichtbar an der auf Autohecks allgegenwärtigen Flagge mit dem schwarzen Kopf samt weißem Stirnband, wie sie einst für den Kampf um korsische Unabhängigkeit gehisst wurde, heute aber mitunter für eine anti-muslimische Spielart von Nationalismus in Anspruch genommen wird. Und zu vernehmen aus den Worten einer seit Jahrzehnten in Marseille lebenden Seniorin dieser Tage: „Ich bin nicht Französin, ich bin Korsin.“ Vielleicht hätte der vom spanischen Zentralstaat für abgesetzt erklärte katalonische Präsident Puigdemont in solidarisch-separatistischen Kreisen ein sichereres Refugium gefunden als dort, wohin er von der Hafenstadt aus flog: nach Belgien.
Denn wie wenig sich die in Europa Herrschenden um dortige Dissidenz scheren, haben sie zuletzt gezeigt, als Brüssel und die Wallonie gegen den Freihandelsvertrag CETA opponierten. Nun liegt die dritte belgische Region, Flandern, quer zur herrschenden Sichtweise auf Katalonien, zumindest Belgiens Staatssekretär für Asyl und Migration, Theo Francken von der separatistischen Neu-Flämischen Allianz (N-VA), der stärksten Regierungspartei. Er hatte am vergangenen Samstag sein Land als Zufluchtsort für Puigdemont ins Spiel gebracht. Was sich am darauffolgenden Montag, nach der Anklageerhebung der spanischen Generalstaatsanwaltschaft wegen Aufstands, Aufruhrs und Veruntreuung, materialisierte. Von bis zu 30 Jahren Haft ist die Rede.
Haft und Verwüstung
Dass Puigdemont Jahre einsitzen und einmal als Rächer wie Dantès nach 14 Jahren Kerker wiederkehren muss, um dann in die Einsamkeit zu fliehen, mag von Deutschland aus zwar schwer vorstellbar erscheinen. Wo aber sind Anzeichen für Dialog, Verhandlung, gar Aussöhnung zu finden, woraus ist die Vorstellung eines „fairen Prozesses“ in Madrid, wie ihn der Geflohene zur Bedingung für seine freiwillige Rückkehr macht, abzuleiten, im Angesicht von „Artikel 155“, der Verwüstung der katalanischen Selbstverwaltung per vollmobilisierter spanischer Staatsmaschinerie? Was kann einen baldigen europäischen Haftbefehl mit folgender Auslieferung verhindern? Man wird vielleicht sehen können, wie ernst es der rechten N-VA mit dem Separatismus ist, und: dass Katalonien kein Einzelfall ist in Europa, wie fragil etwa die belgischen Verhältnisse sind; die regierende Koalition trägt den Beinamen „Kamikaze“, weil sie die erste seit langem ist, die ein gewisses flämisch-frankophones Ungleichgewicht zu Ungunsten letzterer kennzeichnet, wenngleich der Regierungschef mit Charles Michel ein wallonischer Liberaler ist.
Ob er dem Bürger eines anderen EU-Mitgliedsstaates politisches Asyl gewähren und der Union damit die nächste Zerreißprobe verpassen würde? Wohl kaum. Im für ihn besten Fall lassen ihn die Kommissare aus dem Brüsseler EU-Regierungsviertel die Chance auf eine Rolle als europäischer Vermittler ergreifen und er parliert darin. Im wahrscheinlicheren Fall erodiert einfach seine eh von Terror und Rücktritten gebeutelte Regierung weiter.
Ein europäisches Thema
Wenngleich nun auch hierzulande erwartbar hämisches Triumphgeheul ertönt, im Angesicht eines vermeintlichen Sieges der Vernunft über „diffusen Regionalismuskitsch“, vom gewählten katalanischen Präsidenten als „verantwortungslosem Hasardeur“ die Rede ist: Puidgemonts Gang in Europas Hauptstadt ist nicht einfach eine Flucht, sie ist der nächste Versuch eine Verbreiterung des Diskurses, dem eine gewisse Logik nicht abzusprechen ist. Ebensowenig gewisse Erfolgsaussichten, mit Blick auf Belgien eben. „Anders als viele deutsche Medien habe ich den Eindruck“, schreibt Freitag-Autor Raul Zelik auf seinem Blog, „dass diese Entscheidung Puigdemonts von vielen Menschen unterstützt wird. Der Präsident hat sich nicht ‚in Sicherheit gebracht‘, sondern versucht den Konflikt zu internationalisieren.“
Keiner weiß heute, was die von Madrid für den 21. Dezember verordneten Wahlen in Katalonien und die bis dahin noch steigerbare Repression bringen werden. Schon jetzt werden Unabhängigkeits-bewegte Solidaradressen in sozialen Medien hart geahndet. Die Zustimmung zur Unabhängigkeit sei seit Juni um sieben Prozentpunkte gewachsen, zitiert Zelik eine Umfrage des katalanischen Instituts CIS.
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