Das Phänomen

Thüringen Lässt sich das Modell Ramelow auf Bundesebene übertragen? Vielleicht nicht, aber es gibt viel von ihm zu lernen
Ausgabe 07/2020

Um Bodo Ramelows Erfolg zu verstehen, muss man nur sein Verhältnis zu einem der größten Verbände Thüringens in Augenschein nehmen. Kurz nach der Wahl 2014 war es eine der ersten Handlungen des angehenden Ministerpräsidenten, dem damaligen Geschäftsführer des Thüringer Bauernverbands – einem laut Selbstbezeichnung „Urschwarzen“, der „den Roten“ gern die Vorteile der Genossenschaften in der DDR erklärte – zu versprechen, dass die Grünen nicht die ministerielle Zuständigkeit für die Landwirtschaft erhalten würden. Er hielt das Versprechen, der Bauernverband war glücklich.

Mit Bauern und Bier

Mehr als 100.000 Arbeitsplätze hängen im Zwei-Millionen-Einwohner-Land Thüringen an der Landwirtschaft, das Verhältnis zwischen Linken und Landwirten ist bis heute gut. Von der Grünen Woche in diesem Januar gibt es einträchtige Bierkrug-Bilder mit Landesvater Ramelow und dem aktuellen Bauernverbandschef. Letzterer schrieb gerade: „Wir brauchen hier eine Regierung! Linke in Thüringen mit Nazis gleichzusetzen geht gar nicht. Das hat zum Ergebnis vom 5. 2. geführt.“

Die Landwirte waren einst feste Bastion der Union, nicht nur in Thüringen, wo die CDU 1999 unter Bernhard Vogel sagenhafte 51 Prozent der Stimmen einfuhr. Vogel ist heute 87 Jahre alt, zuletzt haben sie ihn mal wieder in den Saal des Landtags geholt, der nach ihm benannt ist, am Vorabend der Wahl zum Ministerpräsidenten. Elf Jahre hatte Vogel selbst dieses Amt in Thüringen inne – in längst vergangener Zeit, bis 2003 – und zuvor zwölf Jahre in Rheinland-Pfalz. Was also riet der in Westdeutschland, wo Antikommunismus so lange Staatsräson war, sozialisierte Polit-Pensionär seinen Parteifreunden in Erfurt? Auf keinen Fall Bodo Ramelow wählen! Hernach wollte er am von CDU, AfD und FDP getragenen Votum für Thomas Kemmerich, „einen Mann der Mitte“, keinen „Tabubruch“ erkennen.

Das sehen die Wählerinnen in Thüringen anders. Auf 13-14 Prozent ist die CDU dort laut Umfragen gefallen. Das ist ein Drittel des Zustimmungswertes für die Linkspartei: 39-40 Prozent. Sagenhaft. Die Zeit hat die CDU überholt. Antikommunismus wirkt gerade in Anbetracht eines Sozialdemokraten wie Ramelow lächerlich. Und während die zuständige CDU-Bundesministerin Julia Klöckner zwischen Bauern-Protesten in Baden-Württemberg und Hessen Zeit findet, um im Deutschlandfunk in einem Atemzug von „rechtsextrem“ und „linksextrem“ zu reden, hat Thüringen in Bodo Ramelow längst eine neue Mitte gefunden – auch wenn man das bei der Linkspartei selbst natürlich nicht so etikettiert wissen will. Der Zuspruch für Ramelow aber speist sich aus vielen Milieus, die der Linken anderswo oft nur schwer zugänglich sind. Er ist nicht nur ein geschätzter Partner der Landwirte. Im April 2019 reiste er mit einer knapp 100 Vertreter von Wirtschaft, Handwerk und Wissenschaft umfassenden Delegation nach Vietnam und warb um Zuwanderer nach Thüringen, um dem absehbaren Renteneintritt vieler Fachkräfte dort entgegenzuwirken. Nicht zuletzt ist er bekennender Christ. „Während Sahra Wagenknecht über verwirktes Gastrecht dozierte, gab Ramelow zu Protokoll, Thüringen könne durchaus weitere Flüchtlinge aufnehmen, was offenbar seiner Beliebtheit keinen Abbruch tat“, schrieb gerade Danilo Scholz im Blog merkur-zeitschrift.de.

Zwischen Strauß und Habeck

Ramelow hat auch große Teile der linken Kernklientel fest auf seiner Seite. Nicht nur Arme, mit denen er am Nikolaustag im Erfurter „Restaurant des Herzens“ speist, auch Facharbeiter. August 2019, Eisenach: Im hiesigen Werk eröffnet Opel eine neue Produktionslinie, fortan rollt der Stadtgeländewagen Grandland vom Band, ein SUV. Prominenz aus dem Konzern und der Politik ist da, der Bund hat seinen damals noch amtierenden Ost-Beauftragten Christian Hirte, CDU-Vize in Thüringen, geschickt. Doch während Hirtes Anwesenheit von der Belegschaft höchstens geduldet, seine staatstragenden Worte kaum mit Applaus bedacht werden, überschlägt sich der Betriebsratsvorsitzende mit Lob für Bodo Ramelow. Der habe hier schon so oft vor dem Werkstor mit gegen den Abbau von Arbeitsplätzen demonstriert und habe entscheidenden Anteil daran, dass der Grandland in Eisenach gebaut, der Bestand von noch 1.400 Arbeitsplätzen gesichert werde. Ramelow selbst fordert derweil vom Opel-Mutterkonzern PSA noch mehr Investitionen in der Region.

Christian Hirte ist dieser Tage von der Kanzlerin als Ost-Beauftragter geschasst worden, unter anderem weil er seiner Euphorie über die Kemmerich-Wahl mithilfe der AfD Ausdruck verliehen hatte. Seine Nachfolge soll ein sächsischer CDU-Mann antreten, der dies bei einem Besuch des Immobilienbranchen-Lobbyverbands ZIA bestätigte: Marco Wanderwitz unterstrich dabei seine Gegnerschaft zum rot-rot-grünen Mietendeckel in Berlin.

Eben dort, in Berlin, zeigt sich, dass das Modell Ramelow zwar nicht vom ländlich geprägten Thüringen auf die ganze Republik übertragbar ist, in der größten Stadt Deutschlands aber durchaus Parallelen hat: Vizebürgermeister, Kultursenator und Mietendeckel-Mitinitiator Klaus Lederer von der Linken ist der beliebteste Politiker Berlins. Gegen die Popularität des aus Frankfurt an der Oder zugezogenen, 45-jährigen Ostberliners Lederer kommt die CDU heute ebenso wenig an wie gegen die des in dritter Ehe verheirateten Protestanten und Gewerkschafters Bodo Ramelow, 63. Seit 2005 sind eben 15 Jahre vergangen; damals verwehrte dem nicht minder integren Linken Lothar Bisky eine mutmaßlich von der Union getragene Mehrheit in ganzen vier Wahlgängen das Amt des Bundestagsvizepräsidenten, so wie es die meisten Abgeordneten heute mit den Kandidaten der AfD für ebendieses halten.

Noch im Winter 2014 demonstrierten Tausende vor dem Erfurter Landtag gegen den „Kommunisten“ Ramelow, mit Kerzen und Plakaten, auf denen etwa stand: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber“. Inzwischen hat Ramelow so vielen Metzgern, Bäckerinnen, Bauern, Arbeitern und Unternehmerinnen die Hand geschüttelt wie sonst nur Ministerpräsidenten der CSU in Bayern. Wer ihn einmal Dynamik und Innovationsgeist der Wirtschaft des Freistaats hat anpreisen hören, fühlt sich an Franz Josef Strauß erinnert. Ramelows Beliebtheitswerte haben jedenfalls alte bayerische CSU-Dimensionen: 99 Prozent unter Linke-Wählern, 95 unter denen der SPD, 86 bei den Grünen – und vor allem: 60 Prozent unter CDU-Wählern. Ein Grund, warum die Kommunismus-Keule der Union heute so wurmstichig ist: Ramelow hat sich nie einer Debatte über die Geschichte der DDR und seiner Partei verweigert. In seiner ersten Ansprache als Ministerpräsident wandte er sich stellvertretend an seinen Freund Andreas Möller, den die Stasi einst inhaftiert hatte und der später als Reporter der Bild in Thüringen gearbeitet hatte.

Wenngleich die CDU zurzeit um viel fürchten muss – dass ausgerechnet die Linkspartei ihr bundesweit den Rang als Volkspartei abläuft, steht freilich nicht in Aussicht. Bodo Ramelow ist ein Thüringer Phänomen, kein Kanzlerkandidat.

Dafür werden längst andere gehandelt, die ihrer grünen Partei zwar in ähnlichem Umfang neue Milieus auf Kosten der Ex-Volksparteien Union und SPD erschließen – aber eben in mehr als einem Bundesland. Welche Rede würden wohl Robert Habeck oder Annalena Baerbock halten, müssten sie das Band bei der Eröffnung einer neuen SUV-Produktion durchschneiden?

Mit Landwirten jedenfalls hat Habeck Erfahrung: Anders als in Thüringen 2014 bekamen die Grünen in Schleswig-Holstein 2012 das Ministerium für Landwirtschaft; Habeck blieb sechs Jahre lang Minister, an deren Ende schimpfte der Chef des Landesbauernverbands, der Grüne habe dabei nichts gelernt. Dafür ja aber der Verband – kurz zuvor hatte er eine Neuausrichtung beschlossen, auf „eine ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltige Landwirtschaft in Schleswig-Holstein“.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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