Vom Abiturball seines Sohnes hat Ulrich Schneider seiner Schwiegermutter gar nicht erst erzählt, sagt er. Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, ein Job, bei dem er sich wohl auch noch eine fünfte Eintrittskarte für den Abiball hätte leisten können. Aber er hatte ja schon die für den Sohn, für seine Frau, seine Tochter und sich nur äußerst widerwillig bezahlt. Nicht weil er geizig wäre. Sondern weil er 60 Euro Eintritt pro Person für einen Abiball als schwer erträglichen Ausdruck dessen empfindet, was tagein, tagaus sein Thema ist und was als solches den Bundestagswahlkampf im kommenden Jahr so prägen dürfte wie niemals zuvor: die steigende Ungleichheit in Deutschland.
Der Abiball liegt mehr als ein Jahr zurück, als Schneider an einem Mittwochabend Ende November in einem kleinen Saal in Potsdam sitzt, vor sich etwa 50 gepolsterte Stühle für das Publikum, alle sind besetzt: Jung, Alt, Frauen, Männer, Schülerinnen, Studenten, Rentner, Mittdreißiger. „Soziale Ungleichheit. Ein Streitgespräch“ hat die brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung die Veranstaltung in ihrem Hause genannt.
Ulrich Schneider ist gerade noch rechtzeitig mit der S-Bahn durch den Regen herübergerauscht aus Berlin, wo sein Büro liegt und wo auch der Abiball stattfand. Schneider hat sich die Tropfen von den Brillengläsern getupft, dahinter funkeln jetzt seine Augen, er spannt den Rücken durch, wird lauter: „60 Euro für so ’nen Schickimicki-Ball, das bisschen Buffet und Flatrate-Saufen! Etliche Schüler sind alleine gekommen, die Karten waren für sie zu teuer, um die Familie mitzubringen.“
Bei einigen seien die Eltern zu späterer Stunde nachgekommen, sie dachten, dann wäre der Eintritt frei. „Wissen Sie, was die Organisatoren gemacht haben, als sie das gemerkt haben?“, fragt Ulrich Schneider ins Publikum. „Die haben beschlossen, dann nehmen sie halt ab 23 Uhr doch noch nen Zehner Eintritt von jedem“, schnaubt er.
Auf den zweiten Blick
Man kann 60 Euro als angemessenen Preis bewerten, weil es doch um den Abiball geht, eine Feier, die man nur einmal im Leben begeht.
Und man kann 60 Euro als eine Barriere bewerten, wie es viele gibt und wie sie allesamt für viele bedeuten, dass sie nicht dazugehören, nicht mithalten können, ganz einfach, weil schon 120 Euro für zwei und erst recht 240 für vier Karten einfach nicht drin sind, bei einem Monatsnettoeinkommen von 1.000 Euro etwa, mit dem man hier gerade noch zur „unteren Mitte“ und nicht zu den „Armen“ zählt.
60 Prozent des Altersjahrgangs haben 2016 in Deutschland ihr Abitur geschafft, so viele wie noch nie (Freitag 34/2016). Doch dass heute mehr Menschen Zugang zu besserer Bildung haben, das passt nicht allen: Es liege an einer zu lockeren Vergabe guter Noten durch anspruchslose Länder wie Berlin, hat eben erst der bayerische Gymnasiallehrer und Präsident des Lehrerverbands Josef Kraus gezürnt und mehr Härte gefordert. Im Grunde ist es mit dem ganzen Land so wie mit der Zahl der Abiturienten, den Noten und den teuren Abiball-Karten: es gibt viele Zahlen, die auf den ersten Blick Anlass zu Freude sein könnten und über die sich viele Leute dennoch nicht freuen können, weil sie ihrer Wahrnehmung der Realität überhaupt nicht entsprechen.
So wird 2017 die Zahl der Erwerbstätigen mit 44 Millionen wohl ein neues Allzeithoch erreichen. Um ganze 45 Prozent ist die Arbeitslosenquote von 2005 bis heute gesunken. Eine Million offener Stellen gibt es, vor allem etwa im sozialen Bereich und in der öffentlichen Verwaltung – die hohe Flüchtlingszuwanderung der jüngsten Vergangenheit ist ein Grund dafür.
Das Volkseinkommen, die Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, ist zwischen 2012 und 2015 um mehr als zehn Prozent gestiegen, um jährlich immerhin knapp zwei Prozent kletterten die verfügbaren Einkommen im selben Zeitraum. Und die Steuereinnahmen sprudeln.
Und dann ist da der zweite Blick, der auf den Niedriglohnsektor etwa, zu dem 1995 noch rund 19 Prozent der Beschäftigten zählten, heute sind es nahezu 25 Prozent – jeder vierte. Zehn Euro brutto pro Stunde markieren die Grenze zu diesem Bereich, der Mindestlohn steigt vom 1. Januar 2017 an trotzdem nur auf 8,84 Euro. Ein Tarifvertrag gilt heute nur noch für 59 Prozent der Beschäftigten im Westen und für 49 im Osten – in der Bundesrepublik lag dieser Wert in den 1960er und 70er Jahren noch bei um die 90 Prozent.
Wer zwischen 2008 und 2012 seine erste Arbeitsstelle antrat, der bekam dabei mit einer um 28 Prozentpunkte höheren Wahrscheinlichkeit einen atypischen Job als ein Berufsanfänger im Zeitraum 1991 bis 1995. Selbst wer heute einfach während seiner Karriere von einem Job in einen anderen wechselt, landet mit 16 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit in Befristung, geringfügiger oder Teilzeit-Beschäftigung, Zeit- oder Leiharbeit. Die Lohnquote – der Anteil der Einkommen aus Arbeit gegenüber denen aus Vermögen oder Unternehmertätigkeit – sinkt seit 1980. Für ausnahmslos alle der sechs Wohlstandspositionsklassen, von den „Armen“ und der „unteren Mitte“ bis zu den „Reichen“ und „Sehr Reichen“ hat sich die Einkommensmobilität gegenüber den 1990er Jahren verfestigt. Die geschätzte Zahl der Wohnungslosen ist von 256.000 (2006) auf 335.000 (2016) gestiegen, die der Überschuldeten innerhalb eines Jahrzehnts von 3,4 auf 4,2 Millionen.
All diese Zahlen kennt Ulrich Schneider. Denn sie stehen im Entwurf für den neuen, fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, und Schneiders Paritätischer Wohlfahrtsverband gehört zum Beraterkreis für dessen Erstellung. Trotzdem aber macht Schneider, 58, von diesen und ähnlichen Zahlen kaum Gebrauch, wenn er wieder mal in einer Talkshow sitzt, Interviews gibt oder auf Podien sitzt. In Potsdam lässt sich das gut beobachten. „Wenn ich im Supermarkt eine alte Frau nur billige Nudeln und zwei Eier in ihren Einkaufswagen legen sehe, dann kann ich darin Armut erkennen“, sagt er, es ist eine Geschichte aus seinem Repertoire, sie findet sich etwa auch in einem Zeitungsporträt von ihm aus dem Jahr 2010. Schneiders Argumente sind Geschichten. Bilder. „Fakten“: Die Anekdote vom Abiball hatte er eingeleitet mit den Worten: „Ich erzähle Ihnen mal eine kleine Geschichte, ein Faktum übrigens.“ Er hat dabei etwas bittersüß zu seiner Kontrahentin auf dem Podium hinübergelächelt, zur Ökonomin Judith Niehues.
Gefühle oder Fakten?
Niehues redet auf die andere Weise über Ungleichheit und Armut als Schneider. In Zahlen. In Daten. Sie ist 34 Jahre alt und die Leiterin der Forschungsgruppe Mikrodaten beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), dessen Arbeit rund 110 Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sowie Einzelunternehmen finanzieren. Das IW hat seinen Sitz in Köln; doch heute ist Judith Niehues wie Ulrich Schneider von Berlin-Mitte aus nach Potsdam gefahren, denn gestern noch war sie beim Gleichheits-Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Hauptstadt und ihr Arbeitgeber hat dort ein Büro, ganz in der Nähe von dem Schneiders. Dort hat Niehues den Tag über ihre Präsentation für das Streitgespräch in Potsdam vorbereitet, ein Beamer wirft diese jetzt an die Wand. Schneider übrigens ist ohne Präsentation gekommen.
„Es ist ja gerade viel von postfaktischen Zeiten die Rede“, beginnt Niehues, und gerade in der Debatte über Ungleichheit gehe es ja oft eher um Gefühle denn um Fakten. Demnach lautet der Titel ihres Vortrags „Ungleichheit in Deutschland – Wirklichkeit und Wahrnehmung“, und gleich die erste Folie betrifft eine Wahrnehmung: 60 Prozent der Deutschen empfinden die wirtschaftlichen Verhältnisse – nämlich „was die Menschen besitzen und verdienen“ – als nicht gerecht, eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2014 ist die Quelle.
Dann geht es um eine Wirklichkeit, „Kein Anstieg der Ungleichheit seit 2005“ steht da. Der Graph im Bild an der Wand zeigt den Gini-Koeffizienten für die Nettoeinkommen in Deutschland, jenes beliebte, weil eingängige Maß für Ungleichheit: der Wert null steht für die perfekte Gleichverteilung, der Wert eins für die maximal mögliche Ungleichverteilung, dafür also, dass einer über alles und alle anderen über nichts verfügen. In Niehues’ Bild steigt der Graph in den Jahren 2000 bis 2005 fast durchgängig steil auf den Wert 0,29 an, geht dann in einen leichten Sinkflug bis 2010, um dann wieder anzusteigen – 2012 landet er wieder etwa dort, wo er 2005 war: beim Wert 0,29.
So weit ist dies ein grundlegender Befund zur hiesigen Einkommensungleichheit, über den sich die meisten Forscher, gleich welcher Couleur, einig sind und der auch im Entwurf für den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung steht: Nach einer Phase des Rückgangs ist die Ungleichheit zwischen 1999 und 2005 recht stark gestiegen und hat sich dann bis 2012 weder signifikant vergrößert noch verkleinert. Allerdings geht der Graph in Niehues’ Bild weiter: Im Jahr 2013 steigt er erstmals über 0,29. Warum dann also „kein Anstieg der Ungleichheit“?
Der Kampf um die Deutungshoheit wird hier über Nachkommastellen ausgetragen. Konkret betrug der Gini-Koeffizient für Deutschland 2005 noch 0,288, im Jahr 2013 dann 0,293. „Damit hat die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung in Deutschland den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2005 überschritten“, schreibt dazu das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Das WSI ist der Gegenpart des IW Köln, von Arbeitnehmerseite aus.
„Kein Anstieg“? „Neuer Höchststand“?
In Potsdam erklärt Judith Niehues sich so, wie sie das schon einen Tag vorher in einem Panel des Kongresses der Friedrich-Ebert-Stiftung getan hat: Auf ihrer Folie ist für das Jahr 2013 nicht nur der die 0,29 überschreitende Gini-Graph eingezeichnet, sondern auch ein Punkt: er liegt niedriger, genau auf dem Niveau von 2005, dazu steht in der Legende: „Wert ohne Migrationsstichprobe“.
„Die Datenstruktur hat sich verändert“, sagt Niehues, „dadurch ist die Ungleichheit enorm gestiegen.“ Tatsächlich hat es bei der Grundlage, auf der der Gini-Koeffizient berechnet wird – die jährlichen Haushalts-Befragungen für das sozio-oekonomische Panel (SOEP) – im Jahr 2013 eine Neuerung gegeben: Seitdem werden zusätzlich 5.000 Personen mit Migrationshintergrund und deren Familienangehörige interviewt.
Da ein großer Teil dieser Befragten eher in den unteren Einkommensbereichen zu verorten sei, meint Niehues, habe die Stichprobe also den Wert der Ungleichheit nach oben schnellen lassen.
Eine durchaus plausible Argumentation. Nur: Es ist ja zugleich sehr begrüßenswert, dass das vielen Bevölkerungsstudien in Deutschland zugrunde liegende SOEP mit der Stichprobe näher an die immer stärker von Migration geprägten Realitäten im Land rückt.
Ziemlich dämlich
In Potsdam bietet Ulrich Schneider einen, seinen Ausweg aus diesem Dilemma der Betrachtungsgweisen. Er empfiehlt, doch mal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch Berlin zu fahren, vom Grunewald im Westen nach Marzahn im Osten.
Villen und Boutiquen im einen Teil der Stadt, Schulen mit abblätterndem Putz und lauter Ein-Euro-Läden im anderen. „Das hat überhaupt nichts mehr miteinander zu tun. Da kann der Gini-Koeffizient rauf und runter zucken, wie er will.“
Man müsse zwischen Daten und Fakten unterscheiden, sagt er, und dass er „postfaktisch“ für einen „ziemlich dämlichen Begriff“ halte.
„Daten glaubt man nicht, wenn sie der eigenen Wahrnehmung widersprechen“, sagt Judith Niehues.
„Exakt“, sagt Ulrich Schneider, „und das ist doch gut so.“
Man dürfe Probleme nicht kleinreden, meint Niehues. Aber man solle sie auch nicht skandalisieren.
Einen Skandal in Deutschlands Ungleichheitsdebatte gibt es dann zwei Wochen nach dem Streitgespräch in Potsdam, und Ulrich Schneider spielt dabei seine Rolle: Eigentlich sollte jener neue Armuts- und Reichtumsbericht erst im kommenden Frühling veröffentlicht werden, pünktlich zum Wahlkampf, bei Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) liegt die Federführung. Dann aber taucht der mehr als 600 Seiten lange Entwurf am 13. Dezember im Internet auf und kurze Zeit später eine Passage, die es nicht in den Entwurf geschafft hat, obwohl sie auf einer Studie beruhte, die Nahles extra für den Bericht bei drei Forschern der Universität Osnabrück bestellt hatte. Letztere hatten politische Einstellungen in Deutschland zu Fragen wie Mindestlohn, Vermögensteuer oder Rente mit 67 jeweils nach Einkommens-, Berufs- und Bildungsgruppen, Geschlecht, Alter und Region verglichen, um sie dann mit den Entscheidungen zu vergleichen, die der Deutsche Bundestag in ebendiesen Fragen zuletzt getroffen hat.
Das aus dem Bericht getilgte Resultat: „Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird.“
Und: „Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“
Ulrich Schneider, der in diesem Jahr zum Ärger aller anderen Parteien der Linken beigetreten ist, hat die gelöschten Passagen im Internet nachgeliefert. „In Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik“, heißt es dort weiter, „sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen.“ Die Studie liefere einen empirischen Beleg für eine „Krise der Repräsentation“.
Eine Krise, über die offensichtlich Teile der Bundesregierung lieber nicht reden wollen. Dem Vernehmen nach gehen die Löschungen auf das Konto des Bundeskanzleramtes und der Ministerien, die die Union hält. „Für einen nicht geschwärzten Armuts- und Reichtumsbericht vielleicht einfach mal einen roten Kanzler wählen“, twitterte der SPD-Parteivorstand nach der Veröffentlichung durch Schneider.
Wie sagte Judith Niehues? Man dürfe Probleme nicht kleinreden. Man solle sie aber auch nicht skandalisieren.
Vielleicht liegt das Problem heute ja eher darin, dass man skandalisiert, indem man etliches kleinredet.
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