„Das hat die in einen Rausch versetzt“

Neonazis Die Rechten werden die Mobilisierung in Chemnitz weiter zu steigern versuchen, sagt David Begrich
Ausgabe 35/2018

Hitlergruß, Jagd auf politische Gegner, eine Polizei, die von alldem überrascht scheint: Ob und wie sich die Spirale rassistischer Eskalation in Chemnitz und anderswo in Sachsen weiterdrehen wird, ist unklar – für diesen Donnerstag werden weitere Aktionen erwartet. David Begrich kennt die rechten Strukturen im Osten der Republik aus jahrelanger Demokratie-Arbeit; er hat die Ausschreitungen Anfang der Woche in Chemnitz vor Ort beobachtet.

der Freitag: Herr Begrich, wie beurteilen Sie das Auftreten der Polizei am vergangenen Montag in Chemnitz?

David Begrich: Ganz offenkundig hatte die Polizei nicht das richtige Einsatzkonzept und viel zu wenige Beamte im Einsatz. Die Einsatzplanung und die Anforderung von Einsatzkräften obliegen der Chemnitzer Polizeipräsidentin und ihrem Planungsstab. Hier wird es Fragen zur Lage-Einschätzung und Prioritätensetzung geben.

Welche rechten Akteure und Strukturen sind da in Chemnitz am Werk, und welche Strategien verfolgen sie?

Die rechte Szene in und um Chemnitz ist seit mehr als zwei Jahrzehnten gut vernetzt. Die Wege zwischen rechten Hooligans, organisierten Neonazis und rassistisch motivierten Wutbürgern sind kurz. Das Geschehen am Montagabend war auch eine spektrenübergreifende Machtdemonstration verschiedener rechter und rechtsextremer Akteure.

Zur Person

David Begrich, 46, ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus im Verein Miteinander e. V. mit Sitz in Magdeburg. Begrich schreibt auch selbst für den Freitag, zuletzt rezensierte er in Ausgabe 33/2018 das Buch Inside AfD. Der Bericht einer Aussteigerin

Gibt es etwas, was die Situation vor Ort in Chemnitz von der anderswo in Sachsen unterscheidet?

Nun ja, auch in Chemnitz gibt es Erfahrungen mit andauernden rassistisch motivierten Protestformen. Organisierten Gewalt-Akteuren geht es um weit mehr als nur Randale. Ein Teil der gewaltbereiten Szene wähnt sich in einer bürgerkriegsähnlichen Situation. Andere, nicht gewaltbereite Protestgruppen stellen die Legitimität staatlichen Handelns in Frage.

Kommentatoren stellen die Gewalt in Chemnitz in eine Reihe mit xenophoben Aktionen der jüngeren Vergangenheit, in Hoyerswerda oder Heidenau etwa. Zu Recht?

Für eine solche Bewertung ist es zu früh. Die kommenden Tage müssen zeigen, ob und in welchem Umfang das vorhandene Protestpotenzial aktiviert werden kann. Vorschnelle Referenzen zu anderen Ereignissen verstellen vielleicht die Sicht auf etwas Neues, was dort entsteht.

Die Rede ist immer wieder von Fußball-Hooligans. Welche Rolle spielen rechte Strukturen im Umfeld ostdeutscher Fußballvereine?

Sie spielen für die Mobilisierung von explizit gewaltbereiten und vor allem gewalterfahrenen Gruppen eine zentrale Rolle.

Wie verhalten sich die Verantwortlichen betroffener Vereine?

Sehr unterschiedlich. Es gibt Vereine wie Babelsberg 03, die sich klar positionieren und auf eine langjährige Praxis antirassistischer Jugendarbeit zurückblicken können. Andere tun sich damit vor dem Hintergrund ihrer Klientel schwerer. Die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Fankulturen ist eine Frage des langen Atems.

Welche Rolle spielt die AfD und welche Pegida?

Pegida und AfD stellen die politische Begleitmusik. Deren Reichweite ist nicht zu unterschätzen.

Welche Rolle spielt die NPD noch?

Auch wenn die NPD als Partei unsichtbar scheint – ihre Akteure sind noch da, und sie sind mittendrin in der Mobilisierung rechtsextremen Protests.

Am 1. Mai ist der sogenannte III. Weg in Chemnitz aufmarschiert.

Der III. Weg ist eine neonazistische Kaderorganisation. Relativ klein. Ihr Interesse ist es, Brennpunkte rechtsextrem motivierten Protests für sich zu nutzen.

Ist es zielführend, nun Diskurse zu führen, die auf Ostdeutschland und Sachsen fokussieren?

Es kommt auf die Art und Weise an. Pauschalisierungen und Klischees helfen nicht. Gefragt ist eine zeitgeschichtliche, politische und organisationssoziologische Analysefähigkeit hinsichtlich der Traditionen eines spezifisch ostdeutschen Rechtsautoritarismus und Rassismus. In Ostdeutschland gibt es eine breite kollektive Erfahrung mit regime change, also mit dem Systemsturz der DDR. Nicht wenige glauben, das gegenwärtige politische System der Bundesrepublik könnte oder sollte ebenso rasch kollabieren.

Wie wird sich die Situation vor Ort Ihrer Einschätzung nach nun weiter entwickeln?

Die skizzierte Mischszene aus Neonazis, Hooligans und rassistisch motivierten Wutbürgern wird versuchen, die Mobilisierung mindestens bis zu diesem Wochenende zu erweitern. Die Veranstaltung am vergangenen Montag dürfte die Akteure vor Ort in eine Art Erfolgsrausch versetzt haben.

Verglichen mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im August 1992: Was ist heute anders, was ist ähnlich?

Alles geht heute schneller bei der Mobilisierung. Jeder hat jetzt ein Smartphone in der Tasche. Es gibt einen parlamentarischen Faktor rechts der Union im Bundestag. Pegida hat einen zweijährigen Vorlauf für rassistische Mobilisierung geliefert. Grundsätzlich sind Polizei und Justiz heute im Osten anders etabliert als 1992. Die Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Es gibt insgesamt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zur damaligen Situation.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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