„Das Ihr-seid-aber-doof nervt“

Interview Unter Linken kämpfen gerade alle gegen alle. Simone Lange plädiert für eine offene Debatte – mit Respekt
Ausgabe 50/2018
Aufstehen als Partei? Davon hält Mitinitiatorin Simone Lange nicht viel
Aufstehen als Partei? Davon hält Mitinitiatorin Simone Lange nicht viel

Foto: Marc Beckmann für der Freitag

Die lakonischen Fragen zur Erneuerung der SPD kann keiner mehr hören, also lassen wir sie stecken. Von Flensburgs linker SPD-Oberbürgermeisterin Simone Lange wollen wir lieber Konkretes hören: Was tut sich an der Basis der von ihr unterstützten Sammlungsbewegung Aufstehen? Oder: Was ist von den neuen sozialpolitischen Vorschlägen der Grünen zu halten?

der Freitag: Frau Lange, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie verfolgen, was in Frankreich zurzeit vor sich geht?

Simone Lange: Zum einen: Gewalt geht gar nicht! Zum anderen: Wie groß muss die Wut der Menschen sein, dass sie sie offenbar nur noch auf dem Wege kenntlich machen wollen? Das muss alle Antennen hochgehen lassen. Die politisch Verantwortlichen können sich nicht mit der Vorstellung zurücklehnen, dass Gewalt nicht erlaubt ist, sondern müssen mit neuen Angeboten gegensteuern, mit neuen Rahmenbedingungen reagieren, die die Menschen annehmen.

Ihre Aufstehen-Mitinitiatorin Sahra Wagenknecht hat gesagt, sie wünsche sich auch in Deutschland mehr vehementen Protest.

Ich wünsche mir auch, dass sich die Menschen lebendiger demokratisch einsetzen. Die Zahl derer, die sich abgewandt haben und seit Jahren nicht mehr wählen gehen, wird größer. Es geht darum, denen ein neues Angebot zu machen, zu sagen: Trefft euch! Organisiert euch neu! Sagt, wie ihr euch die Strukturen wünscht! Mutiger sein, sich zeigen – das wünsche ich mir auch von meiner eigenen Partei. Als ich für den SPD-Parteivorsitz kandidierte, war der Anlass ja ein trauriger: Den Aufruf „Wen haben wir denn noch in unseren Reihen?“ hätte viel früher erklingen müssen. Und es gibt in der SPD viele, viele mehr, die sich nach vorn trauen sollten, es aber nicht tun.

Sie haben vor dem Parteitag die Osterferien genutzt, um durch das Land zur SPD-Basis zu reisen. Auch wenn Sie das jetzt nicht mehr tun ...

Doch!

Ach ja? Dann erzählen Sie doch mal: Wie ist die Stimmung an der SPD-Basis jetzt?

Gerade war ich in Pfaffenhofen, in Bayern, die Genossen hatten mich eingeladen, sie feierten ihren 100. Geburtstag. Der Frust sitzt tief, er nagt an der Kraft und am Selbstvertrauen. Aber als ich meinen Vortrag gehalten habe, da habe ich anhand des Applauses und der Stimmung gemerkt: Da lässt sich echt was mobilisieren! Allerdings müssen die Mitglieder, die Ortsvereine, Kreis- und Landesverbände schon aus eigener Kraft kämpfen – etwa angesichts dessen, dass die SPD in Bayern gerade eine historische Wahlniederlage erlebt hat, es aber keinen Rücktritt gibt und niemanden, der aufsteht und sagt: „Ich kann das besser, ich biete etwas Neues an!“ Das erleben wir nicht nur in Bayern.

Ich erspare uns jetzt lakonische Fragen nach der „Erneuerung“ der SPD. Sagen Sie mir, warum handeln etwa Andrea Nahles und Olaf Scholz so, wie sie handeln?

In jedem Politiker steckt immer auch die Lust an Macht. Macht kommt von „machen“, ist also im positiven Sinne etwas Gutes. Das gilt auch für Andrea Nahles und Olaf Scholz: Die haben einen persönlichen Anspruch. Allerdings stoßen sie keine neuen Prozesse im Sinne der Sozialdemokratie an und hängen stattdessen am alten Credo der Geschlossenheit. Das sorgt dafür, dass man sich Posten zuschiebt. Etwa als Martin Schulz aus der Tür kam und uns sagte, Andrea Nahles solle Fraktions-, und dann, sie solle auch Parteichefin werden. Das hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Die Partei muss sich öffnen! Sie hat immer dann Wahlen gewonnen, wenn sie sich geöffnet hat, wenn sie auch Nichtmitglieder zum Diskutieren eingeladen hat, und wenn sie mit offenen statt mit geschlossenen Veranstaltungen für Transparenz gesorgt hat. Vor allem müssen wir Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, und das gelingt nur, indem man beweist, dass man tut, was man sagt. Da reicht nicht ein Beweis. Du musst es mindestens achtmal beweisen, bis sie anfangen, dir wieder zu glauben.

Im Gegensatz zu Ihnen hat der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow, mit dem Sie sich eng austauschen, den Glauben verloren, er ist ausgetreten.

Er ist uns im Moment als Mitstreiter, als aktives Mitglied verloren gegangen, aber nicht als Wähler und Mitdenker.

Ihr Genosse Johannes Kahrs hat über Bülow geschrieben: „Der Typ ist kein Verlust. Eine ewige Ich AG. Der hat mit der SPD noch nienix was zu tun gehabt.“

Zur Person

Simone Lange, 42, wurde in Thüringen geboren und arbeitete als Kriminalbeamtin in Flensburg. 2018 kandidierte sie gegen Andrea Nahles um den SPD-Vorsitz und erhielt rund 28 Prozent. Gerade hat sie das Buch Sozialdemokratie wagen! veröffentlicht

Bei solch einem unmenschlichen Umgang hätte ich mir von einer Parteivorsitzenden gewünscht, dass sie das öffentlich rügt. Marco Bülow hat sich über viele Jahre eingesetzt, hat seinen Wahlkreis gewonnen und Menschen davon überzeugt, Sozialdemokratie zu wählen. Leider weiß ich, auch aus eigener Erfahrung, dass solch eine Aussage nur das ist, was öffentlich wird, hinter dem Vorhang findet noch viel mehr desgleichen statt. Die Menschen bemerken diese Art von Umgang miteinander, wir kriegen die Quittung dafür.

Kahrs ist Sprecher des Seeheimer Kreises in der SPD, welcher vor dem Mitgliederentscheid warnte: „Wenn die SPD Nein zur Großen Koalition sagt, dann wird sie auf 15 Prozent abstürzen.“

Wir haben Ja gesagt und stehen bei 14 Prozent.

Sie haben unter anderem mit Marco Bülow Aufstehen initiiert, die Sammlungsbewegung. Zurzeit höre ich dazu zweierlei: „Die sind doch schon wieder tot.“ Und: „Die müssen jetzt Partei werden!“

Ich habe mich immer dafür ausgesprochen, dass Aufstehen nicht das Ziel haben darf, eine Partei zu werden. Es muss ein Angebot sein, eine breit aufgestellte Form von Vorfeldorganisation zur Parteienpolitik, ein niedrigschwelliges Angebot vor Ort, damit Menschen, die mit Politik schon lange nichts mehr am Hut haben, überhaupt wieder zusammenkommen.

Wie klappt das denn?

Auf regionaler und kommunaler Basis gründen sich viele Gruppen, darunter viele Leute, die schon beim Wort „Partei“ abschalten, sich aber jetzt plötzlich treffen, sich austauschen, ihre eigenen Strukturen kreieren. Die Idee Aufstehen ist ganz jung, und die Kunst ist jetzt, sich nicht medial zerreiben zu lassen, den Menschen Zeit zu geben, sich im nächsten Jahr den Fragen nach der Legitimation zu widmen: Wer ist Sprecher, gibt es einen Vorstand, in welcher Form soll das fortgeführt werden? Ich werbe sehr dafür, sich diese Zeit zu nehmen. Ich bin nach wie vor sehr gern die gewesen, die das mit angeschoben hat. Ich habe mich dann aber bewusst ein Stück zurückgenommen, um nicht als Berufspolitikerin vorn mitzulaufen, sondern vielmehr die Fläche zu stärken.

Bei der Gründung haben Sie dem Freitag gesagt, es sei gut und nötig, dass zwei Politikerinnen wie Wagenknecht und Sie in der Migrationspolitik verschiedene Positionen vertreten, sich aber dennoch darauf verständigen, dass eine Bewegung nötig ist, die alle progressiven Kräfte bündelt. Ist dem noch so?

Ja, wir haben beide unsere Haltung nach wie vor, stehen im Austausch und wir pflegen ein kollegiales Miteinander.

Da haben Sie ja vielen aus der Linkspartei etwas voraus ...

Das muss die Linkspartei mit sich ausmachen. Mir geht es vor allem darum, dass ich glaube, vielen Menschen dürstet es danach, zu erleben, dass man total unterschiedlicher Meinung sein kann und trotzdem einen respektvollen Umgang pflegt. Die Leute sind die permanenten Ihr-seid-aber-doof-Auseinandersetzungen leid. Robert Habeck und ich waren in der gleichen Legislaturperiode in einer Koalition im Landtag – ich kann mich mit ihm echt über Dinge streiten und bin komplett anderer Meinung, aber wir haben einen sehr respektvollen Umgang, in und abseits der Öffentlichkeit.

Habeck hat Ihrer Partei gerade mal eben vorgemacht, wie man sehr konkrete Vorschläge für die Zukunft des Sozialstaates auf den Tisch legt.

Erst mal finde ich gut, dass er eine konkrete Idee hat. Dann ärgert mich, dass das etwas ist, wo die Antwort eigentlich hätte von uns kommen müssen. Man muss neidlos anerkennen, dass die Grünen im Moment die Menschen, die Wählerinnen und Wähler, gewinnen, weil sie nicht so verstaubt auftreten wie wir und weil sie tatsächlich neue, frische Ideen einbringen. Das Einzige, was die SPD macht, ist, auf die Grünen zu schimpfen. Wir brauchen unbedingt eine inhaltliche Erneuerung, aber eben auch Menschen, denen man das abnimmt und die dafür stehen. Da haben wir im Moment allerdings nicht die besten Leute an der Spitze.

Wie sollte denn die Erneuerung in Sachen Sozialstaat und Hartz IV konkret aussehen?

Wir knacken demnächst die 1-Billion-Euro-Marke an Sozialausgaben in Deutschland. Aber dieser Kreislauf, alles in das Sozialsystem zu pumpen, funktioniert nicht – wir schaffen keine gleichwertigen Lebensverhältnisse, es gibt jetzt mehr Kinder in Hartz-IV-Familien und mehr Rentner, die auf Grundsicherung angewiesen sind. Was ich will, ist, dass wir über das Grundeinkommen diskutieren. Ich bin seit vielen Jahren Anhängerin dieser Idee, in meiner Partei aber für den Anstoß dieser Debatte furchtbar ausgelacht worden. Wir sind nicht einmal in der Lage, ernsthaft darüber zu debattieren.

Wieso sollte jemand, der eine Million verdient, auch noch ein Grundeinkommen erhalten?

Ich denke, man sollte andersrum zu denken beginnen. Es geht mir um eine tatsächlich armutsfeste Grundausstattung eines jeden in Deutschland, unabhängig von dem, was er hat. In Holland gibt es solch einen Ansatz für Rentner. Außerdem: Ein Grundeinkommen erspart ja nicht die Diskussion über Umverteilung, Vermögens- oder Finanztransaktionssteuer.

Info

Den kompletten „radioeins & Freitag Salon“ mit Simone Lange im Maxim Gorki Theater können Sie auf radioeins.de nachhören. Der nächste Salon findet am 14. Januar mit FDP-Chef Christian Lindner stat

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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