"Das ist doch kein Abgas-Skandal"

Luftverschmutzung Die Überschreitung von Emissionsgrenzwerten durch die Autoindustrie ist Folge der politischen Reaktion auf die Krise von 2007, sagt der Umwelt-Experte Hans-Jochen Luhmann
In den 1970er und 80er Jahren, als das Waldsterben offenbar wurde, waren wir schon einmal weiter als heute
In den 1970er und 80er Jahren, als das Waldsterben offenbar wurde, waren wir schon einmal weiter als heute

Bild: Imago

der Freitag: Herr Luhmann, wenn es um den Diesel-Skandal geht...

Hans-Jochen Luhmann: Entschuldigung, ich muss Sie da gleich in der Diagnose korrigieren. Es geht hier um ein Versagen, wovon der so genannte Diesel-Skandal ein Symptom ist. Es handelt sich um ein systematisches Versagen der Kraftfahrtbundesämter in Europa. Die setzen die Vorgaben des EU-Gesetzgebers nicht um. Und das lassen die Mitgliedstaaten zu. Ungeprüft sind somit sämtliche behauptete Fahrzeugeigenschaften, nicht nur das Detail „Diesel-Abgase“. Bei der Wortwahl „Diesel-Skandal“ handelt es sich also, um den Titel von Elisabeth Wehlings wunderbarem Buch zu variieren, um ein „einer Nation eingeredetes Denken – um daraus Partial-Politik zu machen“. Intention der Wortschöpfung ist das Setzen eines engen Fokus, um anderes aus dem Zielfernrohr zu nehmen. Wird ernstlich hingeschaut, so vermag eine ganze Kette von Umgehungen zum Vorschein zu kommen. Was bei den Stickoxid-Werten von Diesel-Fahrzeugen auffiel, das progressive Auseinanderdriften von Soll- und Ist-Werten, von 30 Prozent bei Euro 2 auf 700 Prozent bei Euro 6, zeichnet sich auch ab bei den Angaben zum CO2-Ausstoß, auch bei Benzinern. Selbst bei den Lärmemissionen schummeln die Autohersteller. Wir sind nicht am Ende, wir sind immer noch am Anfang.

Politiker wie Verkehrsminister Alexander Dobrindt und Umweltministerin Barbara Hendricks geben sich bis heute überrascht und verwundert. Waren Sie auch verwundert?

Ja, ein solches Ausmaß von Rechtslosigkeit innerhalb der EU hatte ich mir nicht träumen lassen. Verwundert bin ich heute über die gelassenen Reaktionen darauf; und über den Umgang der Medien, die sich lediglich an unwesentlichen Details der Unternehmen festbeißen, das Staatsversagen hingegen beinahe unthematisiert lassen. Frau Hendricks ist eine kluge Frau. Also wird sie vermutlich bei Amtsübernahme nach den Leichen im Keller ihres Hauses gefragt haben. Die hier thematisierte Leiche wurde unter Federführung des BMU in den Jahren 2007 bis 2009 in den Keller gelegt. Zumindest ihr Vor-Vorgänger, Sigmar Gabriel, kann kaum verwundert gewesen sein.

Um welche Leichen handelt es sich?

Im Nachgang zur Finanzkrise 2007 und der ihr folgenden Rezession haben die politisch Verantwortlichen, so das Ergebnis des Untersuchungsausschusses im EU-Parlament, entschieden, die offenkundigen Überschreitungen bei Stickstoffoxiden zu dulden, um die gebeutelte Autoindustrie zu schonen. Konsequenterweise wurde damit eine seit Jahrzehnten verfolgte transatlantische Nachhaltigkeitsstrategie, die zum Abbau der Luftverschmutzung, bewusst an die Wand gefahren. Damals müssen in Berlin der Verkehrs- und der Landwirtschaftsminister zum Umweltminister gegangen sein und um eine rechtliche ‚Lösung’ gebeten haben. Die hatte dann die Form ‚Löcher bohren in die Deckelung’. Nicht sonderlich fantasiereich, diese Form der Leichenproduktion.

Es gibt eine transatlantische Nachhaltigkeitsstrategie, die Jahrzehnte alt ist?

Ja, klar, und zwar in Form mehrerer multilateraler Abkommen, die die Qualität unserer Luft verbessern sollten. Das Ganze geht zurück auf den öffentlichen Erregungsvorgang in den 1970er und 80er Jahren, der unter dem Schlagwort Waldsterben steht.

Die kollektive Erkenntnis, dass es etwa in Deutschland massive Schäden an Bäumen gibt, unabhängig davon, wie weit entfernt diese Bäume vom nächsten Fabrikschlot oder der nächsten Schnellstraße stehen.

Genau. Es ging um Effekte gegenseitiger Fernbeschießung. Skandinavien hatte schon früh Alarm geschlagen, weil seine Seen versauerten. Deutschland, besonders verletzlich in seiner geographischen Mittellage im Westwind-dominierten Europa, schloss erst einmal die Augen. Das Bundeskabinett entschied, die Forschung zu den Effekten des sauren Regens einzustellen, um den Skandinaviern keine Hilfestellung bei der Substantiierung allfälliger Schadensersatzansprüche zu bieten. Dann kam die Wende – Deutschland entdeckte die Bedrohung seines Heiligsten, seiner Wälder. Da wurde an einem symbolbesetzten Teil etwas Ganzes begriffen: Die Schädigungen von Ökosystemen, menschlichen Bauten und menschlicher Gesundheit bis hin zur Lebenszeitverkürzung durch ein Ensemble von emittierten Luftschadstoffen: Schwefeldioxid, vor allem aus Kraftwerken, Stickoxide, vor allem aus dem Verkehr, und Ammoniak, weit überwiegend aus der Landwirtschaft. Diese Stoffe versauern Böden und Pflanzen, mindern die Artenvielfalt und erhöhen die Bildung von schädlichem Ozon – und, nicht zu vergessen, produzieren menschliche Todesfälle. Die Angst um das Sterben des Waldes stand für all diese Schadeffekte, die im Laufe der Reindustrialisierung der Wirtschaftswunderzeit in ganz Europa sehr stark gewachsen waren. Diese Erkenntnis hatte politische Folgen.

Welche?

Im Zuge der Entspannungspolitik war man ohnehin auf der Suche nach geeigneten Themen für eine pionierhafte Kooperation gewesen. Daher fanden sich erste Konzepte einer Kooperation für sauberere Luft schon in der 1975 unterzeichneten Helsinki-Akte, dem zentralen Dokument zur Überwindung des Ost-West-Konflikts. In ganz Europa und transatlantisch wurde dies dann in der Genfer Luftreinhaltekonvention abgestimmt, konkret gelten heute die Emissions-Deckelungen im Göteborg-Protokoll von 1999. Die EU führte für sich selbst denselben Typ von Budget-Begrenzungs-Abkommen ein, die „Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe 2001/81/EG“.

Was steht in diesen Abkommen?

Sie sehen Budgets für maximal erlaubte Emissionen an Schwefeldioxid, Stickoxide und Ammoniak für jeden Staat für jedes Jahr vor – und für jedes Folge-Jahr weniger. Es wurden Minderungsziele für jeweils gut ein Jahrfünft verabredet. 1999 etwa für den Zeitraum 2010 bis 2015. Eine solche Grenze impliziert Minderungsverpflichtungen für das Budget Deutschlands. Zur Umsetzung erfordert es eine Begrenzung der Emissionsquellen im Detail, es muss ja vorab geplant werden, welcher Sektor welche Minderungsbeiträge zu bringen hat.

Dann aber kam die Finanzkrise, die Wirtschaft brach ein, die Nachfrage nach Fahrzeugen.

Ja. Es wurde, wie erwähnt, beschlossen, der Autoindustrie „zusätzliche Lasten zu ersparen“. Die Begrenzungen im Göteborg-Protokoll wie in der EU-Richtlinie für die Periode 2010 bis 2015 würden absehbar überschritten werden – übrigens in noch weit höherem Ausmaß bei Ammoniak aus der Landwirtschaft. Daher wurden in diese Grenzen setzenden multilateralen Abkommen vorab Löcher in Form von Anpassungsklauseln hineingebohrt. „Flexibilität“ ist das Unschuld signalisierende Stichwort. 2009 geschah das. In das EU-Abkommen erst 2016 – keiner hat’s gemerkt. Was etwas über die Qualität der watchdogs sagt, der Opposition und der Medien.

Was genau hat es mit diesen Anpassungsklauseln auf sich?

Sie lauten in der Konvention und in der EU-Richtlinie gleich und sehen vor, dass die Budgetgrenzen überschritten werden dürfen, „insofern die Änderungen nicht vermeidbar waren und nicht vorhersehbar“. Beides nimmt Deutschland für sich in Anspruch. Die Aussage ist also: Der Staat habe 1999 nicht voraussehen können, dass er später auf die Umsetzung der Euro-x-Grenzwerte verzichten würde. Auf EU-Ebene hat die Bundesregierung den entsprechenden Antrag erst kürzlich gestellt. Im Rahmen der Genfer Luftreinhaltekonvention wurde dieses Ansinnen schon per Gutachten geprüft und gebilligt. Es steht in diesem Gutachten aber nicht mehr als der lapidare Satz, dass das Überschreiten unvorhersehbar gewesen sei. Geprüft wurde nicht.

Die Behauptung von der Unvorhersehbarkeit ist Unsinn.

Natürlich. Die Differenzen zwischen Abgaswerten von Personenkraftwagen im Labor und auf der Straße wurden seit langem festgestellt und auch amtlich gemeldet – eine Fälschung der gemeldeten Emissionswerte Deutschlands hat natürlich nicht stattgefunden. Wenn man in 2007/08 entscheidet, den Deckel der kollektiven Emissionsbegrenzung zu heben, dann kann die Konsequenz zehn Jahre später, dass in etlichen Städten die Immissionsschutzwerte überschritten werden, nicht verwundern. Das ist selbstverständlich. Wer sich dazu überrascht gibt, schauspielert. Die zuständige Ministerkonferenz der Bundesländer, die der Umweltminister, scheint sich an dieser Schauspielerei zu beteiligen. Wenn der Verkehrsminister seine Aufgabe vor allem im Schutz der Autoindustrie sieht und der Landwirtschaftsminister die seine im Schutz der Bauern, dann hat ein Umweltminister in gleicher Festigkeit den Schutz der Umwelt zu vertreten – das ist nach meinem Urteil die Job-Beschreibung. Wenn Umweltminister da treulos werden, ist eine Schranke überschritten.

Wir haben also die einst aus dem Waldsterben gezogenen Lehren im Zuge der Finanzkrise beiseite gewischt. Kann der Abgas-Skandal jetzt dennoch ein Umkehrpunkt sein, um wieder auf den rechten Weg zurückzufinden?

Die erste Antwort ist „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das heißt im Detail Zweierlei: Ohne offenen Umgang, in Deutschland, mit den Entscheidungen in 2007/08, auch der Landwirtschaft, wird die Wunde schwären – es geht ja darum, dass damals entschieden wurde, der Bevölkerung einen Schaden an Gesundheit und Vermögenswerten zuzumuten, der um eine Zehnerpotenz höher ist als die Kosten, um die die beiden verursachenden Branchen angeblich entlastet wurden. Betonung auf „angeblich“. BMW zum Beispiel hat es ohne Schummeln geschafft und beklagt keinen Wettbewerbsnachteil. Es handelt sich, wie eingangs erläutert, nicht lediglich um einen Abgas-Skandal. Der Staat hat versagt bei der Gewährleistung von Produkteigenschaften, hier von Kraftfahrzeugen. Er hat eine scheinbare Regulierung zugelassen, mit den Marktführern für die Typzulassung von Fahrzeugen in den einschlägig beleumundeten Staaten Luxemburg und Malta. Der „rechte Weg“ ist eine Regulierung, die nicht zum Versagen verdammt ist, sondern eine, die verlässlich ist. Das war sie in der jetzigen Form nicht und das ist sie weiterhin nicht nach den dürftigen Reformentscheidungen in Brüssel von Ende 2016. Die Automobil-Sicherheit muss organisatorisch wenigstens der Arzneimittel-Sicherheit entsprechen. Bei der gegenwärtigen Verfasstheit der ‚Kraftfahrtbundesämter’ in den Mitgliedstaaten der EU wird kein Politiker, der bei Verstand ist, seine Familie in so zugelassene und für sicher erklärte Fahrzeuge setzen. Ich bin deshalb hoffnungsfroh, dass der Umkehrpunkt noch erreicht werden wird.

Hans-Jochen Luhmann ist Mathematiker, Ökonom und Emeritus am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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