Potsdam, Duisburg, Dresden, München – das sind die letzten der insgesamt 23 Stationen der SPD auf ihrem Weg zu einer neuen Parteispitze. Tatsächlich füllen die noch sieben verbliebenen Bewerber-Duos bei so gut wie jeder Regionalkonferenz die Halle; dennoch wird am Ende nur ein kleiner Teil der Gesamtmitgliedschaft sich die Kandidierenden direkt vor Ort oder per Video im Internet angesehen haben, bevor es an die Abstimmung im Netz oder per Brief geht, am 26. Oktober das Ergebnis verkündet wird und es dann womöglich zwischen 19. und 29. November zu einem Stechen der beiden Bestplatzierten kommt.
Deshalb ist eine Prognose auf den Ausgang des Rennens um den Parteivorsitz schwierig. Wir wagen sie dennoch, stellen die Duos vor und schätzen ab, wer welche Chancen hat, als erster ins Ziel zu kommen – mittels Wettquoten: je höher der Ertrag auf den Einsatz „10“, für desto unwahrscheinlicher halten wir den Sieg eines Teams; „14 für 10“ zeugt also von einem weitaus größeren Favoritenstatus als „28 für 10“.
Startnummer 1: Justice Fighters
Saskia Esken & Nobert Walter-Borjans
Profil: Ob Klima oder Digitalisierung – „alles eine Frage von Verteilungspolitik“
Sie: Liegt im Clinch mit einigen in ihrem Landesverband in Baden-Württemberg und zählt deshalb auf ihren „Online-Ortsverband“ im Netz
Er: Sieht aus wie ein Finanzbeamter und hat Steuerbetrügern das Handwerk gelegt
Der Kitt: Gelten als glaubwürdig und nichtdem Partei-Establishment zugehörig
Stärke: Journalisten, Jusos und der Vorstand des größten Landesverbands (NRW) mögen sie
Schwäche: Die SPD-Basis besteht nicht nur aus Journalisten, Jusos und NRW-Landesvorstand; eines von vier linken Teams im Feld (vgl. 2, 5, 6)
Wettquote: 15 für 10
Startnummer 2: Golden Oldie
Gesine Schwan & Ralf Stegner
Profil: „Linke Volkspartei“
Sie: Ist Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei
Er: „Bin im Parteivorstand aktuell Beauftragter für gute Laune und will mit Gesine dafür sorgen, dass wir wieder was zu lachen haben“
Der Kitt: „Wir sind das älteste Duo, was nicht an Ralf liegt und mit Begeisterungsfähigkeit sowieso nichts zu tun hat“ (Schwan, 76)
Stärke: Über mehr Witz, Charme und Erfahrung verfügt kein anderes Team
Schwäche: Allseits bekannte Gesichter. Wollen die SPD geistig erneuern, wohin das inhaltlich und strategisch führen soll, bleibt vage
Wettquote: 22 für 10
Startnummer 3: Hoodie Hüh

Foto: Sean Gallup/Getty Images
Christina Kampmann & Michael Roth
Profil: „Die wirken wie von einer Marketingagentur in Berlin-Mitte ausgedacht“ (Zitat eines SPD-Mitglieds bei einer Regionalkonferenz)
Sie: Spricht tatsächlich, als käme sie gerade aus der Rhetorik-Schulung eines Start-up-Inkubators und solle potenzielle Investoren überzeugen
Er: „Wir sind verliebt ins Gelingen!!!“
Der Kitt: Blaue EU-Kapuzenpullis mit bunten Sternen
Stärke: Klares Konzept für Reform der Partei, zum Beispiel Vorstand verkleinern und zu einem Drittel mit Kommunalpolitiker*innen besetzen
Schwäche: Siehe Profil; Michael Roths Stimmen für noch die bitterste GroKo-Pille im Bundestag
Wettquote: 25 für 10
Startnummer 4: 15 Cent
Klara Geywitz & Olaf Scholz
Profil: 15-Prozent-Partei für immer!
Sie: Hat ihr Direktmandat bei den Wahlen in Brandenburg gerade an eine Grüne verloren
Er: „Ich danke Fridays for Future, dass durch ihre Demos endlich einiges auf den Weg gebracht werden konnte, was notwendig war, um den von Menschen gemachten Klimawandel aufzuhalten“ (zum Ergebnis des Klimakabinetts)
Der Kitt: Mann/Frau, West/Ost, erfahren/neu
Stärke: Alle kennen Scholz, ob sie eine Regionalkonferenz gesehen haben oder nicht – im Zweifel stimmt man für den aus der Tagesschau
Schwäche: Mit Scholz als Vizekanzler steht die SPD aktuell bei 15 Prozent
Wettquote: 14 für 10
Startnummer 5: Red Star

Foto: Sean Gallup/Getty Images
Hilde Mattheis & Dierk Hirschel
Profil: Arbeiterpartei
Sie: Hat sich ihre Meriten im Kampf gegen den Neoliberalismus verdient, etwa durch wackeres Stimmen gegen GroKo-Gesetze im Parlament
Er: Verdi-Chefökonom und einer der wenigen progressiven SPD-Wirtschaftspolitiker
Der Kitt: Diese Entschlossenheit im Blick, wie sie nur Menschen haben, die nun eine Chance wittern, die langjährige Marginalisierung in ihrer Bezugsgruppe zu überwinden
Stärke: Mindestlohn rauf, Vermögenssteuer her, weg mit der Schwarzen Null, raus aus der GroKo
Schwäche: Stehen für eine SPD in Reinform, die es so schon längst nicht mehr gibt
Wettquote: 32 für 10
Startnummer 6: Solar Speed

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
Nina Scheer & Karl Lauterbach
Profil: „Die SPD war schon sozialökologisch, als es die Grünen noch gar nicht gab“
Sie: Ist die wohl versierteste SPD-Fachfrau für Energie- und Klimapolitik
Er: „Raus aus der GroKo! Raus aus der GroKo! Raus aus der GroKo! Raus aus der GroKo! Raus ...“
Der Kitt: Beide glauben, mit einem klaren sozialökologischen Kurs künftig rot-grün-rote Bündnisse anführen zu können
Stärke: Fachlich macht ihnen in Sachen Ökologie (sie) und Gesundheitspolitik (er) keiner in der Partei etwas vor
Schwäche: Lauterbach war einst für die GroKo, Scheer bricht beim Reden oft die Stimme weg
Wettquote: 28 für 10
Startnummer 7: Turbostaat

Foto: Sean Gallup/Getty Images
Petra Köpping & Boris Pistorius
Profil: Konsequenter Rechts- und solidarischer Sozialstaat – wie die dänische Schwesterpartei
Sie: „Ich komme aus Sachsen und war dort in 30 Jahren die einzige SPD-Landrätin“
Er: „Ich habe als Innenminister in Niedersachsen Gefährder abgeschoben und stehe dazu“
Der Kitt: Lernten sich bei einem Besuch im belgischen Mecheln kennen und schwärmen für den Law-&-Order- und Multikulti-Kurs des dortigen Bürgermeisters Bart Somers
Stärke: Können reden, wollen zuhören; für Law & Order gibt es an der SPD-Basis hörbar Applaus
Schwäche: „Wir sind ein Ost-West-Team.“ Zieht das? Nur ca. 20.000 Mitglieder leben im Osten
Wettquote: 18 für 10
Kommentare 6
Das verschenkte Thema ist ärgerlich: Die inhaltsarme, vorwiegend an den Schmunzeleffekt appellierende Aufbereitung könnte so auch in einer Yellow-Press-Gazette oder einem Lifestyle-Portal zu finden sein.
Links geht anders. Wie, hat das Neue Deutschland vor einigen Wochen gezeigt. Einzige Frage dort: »Wer will Hartz IV abschaffen?« Auswertung hier in Kurzform:
Beibehaltung ohne Wenn und Aber: Scholz/Geywitz
Behutsame Liberalisierung bzw. unverbindliche Auskünfte: Kampmann/Roth
Sanktionen abschaffen oder aussetzen: Stegner/Schwan, Scheer/Lauterbach
Abschaffung: Walter-Borjans/Esken, Mattheis/Hirschel
Ansonsten lohnt sich das Lesen der Langfassung unbedingt.
Ich denke, die SPD hat auf absehbare Zeit einfach nicht mehr die Macht an Hartz 4 irgendetwas zu ändern, selbst wenn sie es wollte. Vor einiger Zeit hat doch Hubertus Hei unter großem medialem Interesse mal irgendwas von der Abschaffung des Systems gelabert. Seither ist nichts passiert außer, dass er sich am Rande der Klage gegen die Sanktionen vorm Verfassungsgericht für deren Beibehaltung aussprach und Berlins Oberbürgermeister ein Grundeinkommen geschaffen hat, dass die Abgründe der gängigen Praxis antizipiert statt sie zu beseitigen.
Seit es mir unter großem Aufwand gelungen ist diesem albtraumhaften System zu entgehen muss ich mir rückblickend klarmachen: Hartz 4 wird auf lange Sicht bleiben. Das System in seiner derzeitigen Form ist gesetzt. Der alltägliche Skandal ist zur Gewohnheit geworden: Familien mit Kindern, die unter fadenscheinigen Begründungen sanktioniert werden, wochenlange Bearbeitungszeiten, die Antragsteller in die Obdachlosigkeit treiben, verloren gegangene Unterlagen, die, wenn sie auftauchen drei Mal nachverlangt werden, Vemittlung in prekäre Beschäftigung und aktive Verhinderung von Studium, Ausbildung oder Armut verhindernder Qualifizierung. Die Fassungslosigkeit darüber, was im Jobcenter alles möglich ist, wird bei mir noch lange anhalten.
Bei vielen Freunden ernte ich dagegen Schulterzucken. Entweder weil sie diese Praxis nie von Innen erlebt haben oder weil sie meine Schilderungen für überzogen halten. Es ist eine Generation für die der unhaltbare Status Quo überhaupt kein Problem mehr darstellt, weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, sich mit Studienabschluss in beschissen bezahlter Beschäftigung zu verdingen und um die wenigen Altbauwohnungen in den Innenstädten zu kämpfen. Das soziale Thema ist unsexy. Wird belächelt. Deswegen glaube ich, dass das Thema auch in einer schwarz - grünen Koalition erstmal keine Priorität hat. Auch wenn das bitter ist.
Saskia Esken & Nobert Walter-Borjans wären meine Favoriten. Viel viel Glück bei der Wahl !!
»Ich denke, die SPD hat auf absehbare Zeit einfach nicht mehr die Macht an Hartz 4 irgendetwas zu ändern, selbst wenn sie es wollte. (…)«
Die geschilderten Praxis-Impressionen kann ich aus eigener Anschauung bestätigen. Ansonsten denke ich: Der bekundete Wille, SPD-seitig einen Schnitt zu machen, wäre zumindest ideell und in Bezug auf die gesellschaftliche »Akzeptanz« dieser Zustände ein nicht ganz gering zu veranschlagendes Zeichen.
Artikel muß aktualisiert werden: Böhmermann kandidiert nun auch ;-).
Ich habe mir einige der Regionalkonferenzen im Internet angesehen. Im Allgemeinen ist es "Wünsch-Dir-was" und es gibt auch einige Überraschungen. Nina Scheer hat Probleme Reden zu halten und mit Karl Lauterbach kommt das Paar ziemlich abgehoben rüber. Hilde Mattheis kämpft für die Linke, ihr Partner ist etwas farblos und es ist folgerichtig, dass sie aufgegeben haben. Auch wenn Ralf Stegner wie das wandelnde Wahlergebnis der SPD rumläuft, kann er beigeistern und ist im besten Sinn eine "Rampensau". Gesine Schwan könnte gewinnen, wenn es darum gehen würde die Wähler tot zu quatschen. Ob Scholz und Geywitz der Ministerbonus hilft, kann ich nicht sagen, aber ich finde sie einfach nicht überzeugend. Alle anderen sind für mich noch farbloser.
Irgendwie traue ich keinem Paar zu die SPD zu führen und den Verfall aufzuhalten, geschweige denn umzukehren.
Die Vorsitzendenwahl bei der CDU war dagegen wesentlich besser. Man hatte des Gefühl, dass es jede(r) könnte und es gab auch echte Unterschiede. Bei der SPD ist alles sehr bemüht und farblos.
Böhmermann fand ich klasse. Er hat die Reden gehalten, die man von den Kandidaten erwartet hätte. Das Problem ist, dass ich seine Rede/Kandidatur eigentlich nur deshalb gut finden kann, weil die realen Kandidaten so schwach sind.