Er ist Ökonom und kennt das deutsche wie das US-Wirtschaftssystem bestens. Unter anderem zur Impfpolitik hat sich Moritz Schularick mehrmals laut zu Wort gemeldet – während des hier wiedergegebenen Gesprächs ist er auf dem Weg zum Flughafen, um einen Forschungsaufenthalt in New York anzutreten.
der Freitag: Herr Schularick, die USA rufen – würden Sie nicht gern gleich länger dort bleiben?
Moritz Schularick: Ja, zumindest bis ich geimpft bin! Es fällt derzeit jedenfalls nicht schwer, über den Atlantik zu fliegen.
Was machen die USA besser?
Zum einen hat schon die Trump-Regierung sehr viel mehr und breiter Impfstoff bestellt. Zum anderen scheint Joe Biden einen Spiegel-Artikel von einem Kollegen und mir von 2020 gelesen zu haben. (lacht) Jedenfalls tut er, was wir fordern: mit dem langen Arm des Staates alle Hebel in Bewegung zu setzen, um mit administrativen Erleichterungen Rohstoffe bereitzustellen, die Produktion zu beschleunigen, aber auch das Militär einzusetzen und in Drive-through-Impfautokinos oder Stadien so schnell wie möglich so viele wie möglich zu impfen. Während Brüssel und Berlin versagen, tun die USA genau das.
Ist es übertrieben zu sagen, dass Biden mit seinem 1,9-Billionen-Dollar-Rettungspaket Wirtschaftsgesichte schreibt?
Nein, ist es nicht. Das tut er. Das Vorbild ist FDR, Franklin Delano Roosevelt, der mit im Vergleich kleineren Paketen, aber ähnlich drastischen Maßnahmen und großer Rhetorik einen Neuanfang in der Weltwirtschaftskrise bewerkstelligt hat, in der Krisenbekämpfung und im Hinblick auf die Erwartungen. In den USA redet jetzt keiner mehr über Krise und Rezession, sondern darüber, wie groß der Boom sein wird. Die US-Wirtschaft wird 2021 um sieben, acht Prozent wachsen. In der Makroökonomie geht es stark darum, Erwartungen zu beeinflussen: wie wir denken, dass es morgen sein wird. Selbst Debatten in den USA, ob das Programm zu groß ausfällt, sind genau, was man will – sie zeugen vom Umschwung der Mentalität.
Es gibt 1.400 Dollar pro Kopf für alle Einkommensschwachen.
Ja, aber vor allem beeindruckt die schiere Breite des Pakets. Biden gibt Städten und Gemeinden Milliarden, damit sie investieren können. In Deutschland dagegen drehen wir uns bei den riesigen Altschulden der Kommunen seit Jahren im Kreis. In den USA gibt es jetzt länger und mehr Arbeitslosengeld – stellen Sie sich vor, wir würden hier das Arbeitslosengeld I einfach mal ein Jahr länger in voller Höhe auszahlen!
Zur Person
Moritz Schularick, 45, arbeitet als Professor für Makroökonomie an der Uni Bonn und als Forschungsprofessor an der New York University. Er gibt Economic Policy heraus, die wichtigste Zeitschrift für Wirtschaftspolitik in Europa
Das Rettungspaket soll die Kinderarmut halbieren und die Zahl der Armen um ein Drittel reduzieren. Ist das ein sozialstaatlicher Paradigmenwechsel, das Ende der von Reagan eingeleiteten neoliberalen Ära?
Da wäre ich vorsichtiger. In erster Linie ist das ein Programm, um die Narben der Pandemie so fix wie möglich zu heilen. Natürlich fokussiert es deshalb auf die bei den Todeszahlen und bei den wirtschaftlichen Konsequenzen am schwersten betroffenen Bevölkerungsgruppen, Schwarze, Latinos, die Armen.
Aber?
Biden muss die strukturellen Fragen noch angehen. Die Ungleichheit bleibt enorm. 90 Prozent des Aktienvermögens sind in den Händen der obersten zehn Prozent. Denen geht es gerade sehr gut beim Blick auf ihr Anlageportfolio; denken Sie an die Kursrekorde an den Börsen, die genau das Signal von einer rosigen Zukunft aufnehmen, das Biden setzen will. Sicher, das ist nicht nur ein Paket für die Arbeitslosen, sondern auch für das Gesundheitssystem, die Infrastruktur, für Kommunen. Aber strukturelle Fragen berührt es nicht, die Überschuldung vieler Studenten etwa oder die Frage nach Reparationen für die Schwarzen, ein gerechteres Bildungs- und ein effizienteres Gesundheitssystem. Das Fiskalpaket ist ein Riesen-Feuerwerk, ein großer Schulden-finanzierter Einmaleffekt, es wird dem Land einen Ruck geben und es etwas sozialer machen. Aber vom Erfolg der angekündigten Steuerreform wird abhängen, ob wir uns wirklich vom alten Paradigma verabschieden. Wenn das gelingt, ist die Ära des „small government“ vorbei.
Ein Riesenfeuerwerk hatten die USA schon nach der Finanzkrise gezündet. Warum tut sich Europa stets so viel schwerer?
Das ist wohl in erster Linie eine Mentalitätsfrage. Kein Mensch kann absolut sicher sagen, wie sich eine Maßnahme genau auf Inflation, Wachstum oder den Arbeitsmarkt auswirken wird. Aber die USA trauen sich, Dinge auszuprobieren und Bedenkenträger kaltzustellen. Als größte Wirtschaftsnation mit dem Dollar als Weltreservewährung können sie sich das natürlich auch leichter trauen. Aber sich heute wie der verängstigte deutsche Michel an die Adenauer-Devise „Keine Experimente!“ zu klammern und den wirtschaftspolitischen Horizont schon wieder auf Fragen der Regelbindung zu verengen, das ist in einer Krise nur von Nachteil. Genau damit gehen wir wahrscheinlich gerade in eine zweite Rezession und in einen dritten Lockdown. Ob bei der Wirtschafts- oder Impfpolitik – die Mantras „Geht nicht“ und „Das haben wir schon immer so gemacht“ sind das Gegenteil davon, in einer Ausnahmesituation gesunden Menschenverstand und Pragmatismus walten zu lassen, womit die Amerikaner und Briten so viel besser fahren.
Die hiesige Rettungspolitik zielt stark auf die Exportwirtschaft, Hartz-IV-Beziehern werden im Mai 2021 dagegen einmalig 150 Euro Zuschlag zugestanden. Die USA feuern derweil voll auf die Binnenwirtschaft, wie sie auch zentral für Chinas Politik ist.
Ja, überhaupt in Europa machen wir jetzt den gleichen Fehler zum zweiten Mal. Frei nach Karl Marx erst als Tragödie, jetzt als Farce: Wir sind zu langsam, zu zaghaft, wie schon nach der Finanzkrise. Es gab 2020, als wir den Europäischen Wiederaufbaufonds aufgelegt haben, einen Moment, in dem man dachte, Europa agiere zum ersten Mal auf Höhe der Zeit und auf Augenhöhe mit den USA. Aber das ist lange verpufft, unsere 750 Milliarden Euro wirken mickrig mit Blick auf die USA, die nicht noch einmal den Anschluss an China verlieren wollen. Für China war die Krise von 2008 nur eine kleine Delle, dank des binnenwirtschaftlichen Stimulus gab es in den Jahren danach starkes Wachstum. Biden will auch eingedenk des geopolitischen Wettbewerbs nicht auf die Fehler der Vergangenheit blicken, sondern in die Zukunft schauen.
Eine Zukunft mit frappierend gewachsenen Schuldenständen.
An dem Punkt kommt das verzagte, unpragmatische, geradezu doktrinäre deutsche Denken am stärksten zum Tragen. Wir gehen in eine dritte Virus-Welle und kommen mit dem Impfen nicht hinterher, aber wir diskutieren schon wieder, wann es Zeit ist, zur Schuldenbremse zurückzukehren und dass wir den Gürtel enger schnallen werden müssen. Es muss doch jetzt darum gehen, was der Staat noch tun kann, um endlich das Ruder herumzureißen und die Krise so schnell wie möglich hinter uns zu lassen! Bei den gegenwärtigen Zinssätzen spricht selbst bei moderatem Wachstum alles dafür, dass die pandemiebedingten Staatsschulden im internationalen Vergleich gering und voll tragfähig sind. Wir werden da herauswachsen!
Was muss geschehen, damit es vor allem mit dem Impfen hierzulande doch noch klappt?
Es muss ein Ruck durch das Land gehen. Angela Merkel muss die Impf- und Teststrategie zur Chefinnensache machen, aber sie überlässt es Andreas Scheuer und Jens Spahn – das ist doch ein schlechter Witz. Warum stehen nicht längst Bundeswehrsanitäter bereit, um in Zelten auf Marktplätzen die Bevölkerung mit durchzuimpfen, warum braucht die Europäische Arzneimittelagentur EMA so lange, um die Biontech-Produktionslinie in Marburg freizugeben? In den USA holt Biden mit Merck und Johnson&Johnson Konkurrenten zusammen für die Impfstoffproduktion, in Deutschland spricht Merkel vom Versuch, Brücken zu bauen, von denen man aber noch nicht wisse, wohin sie führen. Stellen Sie sich mal vor, Churchill hätte bei der drohenden deutschen Invasion gesagt: „Wir wissen auch noch nicht, wie das ausgeht!“ Was wir gerade in Deutschland erleben, ist das Gegenteil von politischer Führung. Es ist ein Versagen der Exekutive in einer Zeit der Not.
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