„Das Zeitfenster geht zu“

Interview Die Linke kann Hoffnung schöpfen, sagt Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Doch nicht ohne die SPD
Ausgabe 40/2017

Bald zwei Wochen liegt die Bundestagswahl zurück – die daran anschließende Debatte in der Linken hat in der Nacht nach dem 24. September begonnen: „Zu leicht“ habe es sich die Partei in der Flüchtlingsfrage gemacht, sagte Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, bald sekundierte ihr Oskar Lafontaine, woraufhin Gregor Gysi anmerkte: „Wenn man mehr soziale Gerechtigkeit will, darf man nicht gegen andere Arme, sondern muss man gegen ungerechtfertigten Reichtum kämpfen.“ Nähme die Partei davon Abstand, wäre sie nicht mehr seine, schrieb Gysi im Neuen Deutschland.

Streit innerhalb der Partei übertönt Stimmen wie die der Linken-Fraktionschefin im hessischen Landtag, Janine Wissler: Sie nahm sich die dortige CDU als „Brutstätte für die Führungsriege der AfD“ vor ebenso wie die rechte Politik CDU-geführter Regierungen in Sachsen-Anhalt und Sachsen, die Antifaschisten kriminalisierten. Wohin führt der Weg der Linken? Er wird jedenfalls kein leichter sein, sagt der Wahlanalytiker Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

der Freitag: Herr Kahrs, hat es sich die Linke in der Flüchtlingspolitik zu einfach gemacht?

Horst Kahrs: Nein, sie hat es sich angemessen schwer gemacht. An den universalistischen, auf globale Gerechtigkeit zielenden Grundsätzen als linke Partei festzuhalten und zugleich konkrete Probleme vor Ort zu lösen, das ist schwierig. Letzteres hat etwa die linke Sozialsenatorin Berlins getan, indem sie schnell und geräuschlos alle Turnhallen der Stadt, die ihr CDU-Vorgänger hinterlassen hatte, freizog.

Was ist davon zu halten, wenn Oskar Lafontaine von „Lasten“ der Zuwanderung schreibt und die Konkurrenz um Wohnraum, im Niedriglohnsektor und in den Schulen meint?

Erstens ist das eine Frage der Wortwahl. Wir sprechen auch nicht von den Lasten der Arbeitslosigkeit oder der Rentner – das machen die Rechten. Die sagen: Menschen sind zu teuer. Linke sprechen davon, dass Integration und der Bau von Wohnungen etwas kosten. Und darüber, dass diese Kosten gerecht verteilt werden müssen. Zweitens fragt sich, ob man Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt gegen die richtet, die da konkurrieren. Oder dagegen, dass öffentliche Investitionen in Milliardenhöhe fehlen, um dies in Richtung eines grundlegenden Politikwechsels zu wenden. Wer nur von Lasten redet, negiert die Notwendigkeit eines Politikwechsels, da er suggeriert: Wenn wir eine bestimmte Gruppe von Menschen draußen halten, ist erstmal alles in Ordnung.

Wagenknecht und Lafontaine ist ja kein Mangel an analytischer Schärfe zu unterstellen. Dass es grundlegend um Arm gegen Reich geht in diesem Land, das dürften die beiden wissen.

Ja, aber das meine ich mit dem Es-sich-nicht-leicht-Machen: Es gibt diese Art der Flüchtlingspolitik in den vergangenen zwei Jahren und dieses Gefühl vieler: Oh, jetzt kümmern sich die Regierenden um die Geflüchteten! „Wir schaffen das“, sagte Frau Merkel im Angesicht von Hunderttausenden ins Land kommenden Flüchtlingen. Wer aber von Erwerbs- oder Obdachlosigkeit betroffen ist, hat diesen Satz noch nie in Bezug auf seine Situation gehört. Vor dem Hintergrund ist die Frage, für wen Politik gemacht wird, eine nachvollziehbare. Die Linke muss verdeutlichen: Wir sind die, die für alle „Schwachen“ in dieser Gesellschaft Politik machen wollen.

Zur Person

Horst Kahrs, 61, hat in Oldenburg Sozialwissenschaften studiert und ist Referent für Klassen und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seine ausführliche Analyse der Bundestagswahl 2017 findet sich im Internet unter horstkahrs.de

Foto: Ulli Winkler

Aber kann sie überhaupt Wähler zurückholen, die von der Linken zu einer ganz offen rassistischen Partei gewechselt sind?

Ich würde raten, da schon genau zu unterscheiden: Es gibt die, die tatsächlich rassistisch sind und AfD wählen. Und die, denen deren Inhalte egal sind, die die AfD nur instrumentalisieren, um ihrer Enttäuschung Ausdruck zu verleihen – auch wenn sie finden, dass die AfD sich nicht genug gegen Rechtsextreme abgrenzt. Da wird dann eine Grenze überschritten, was angesichts der jüngeren deutschen Geschichte nicht hinnehmbar ist. Wenn man Menschen zurückholen kann, dann nicht mit ebenfalls populistischen Parolen, sondern vor allem über die Entwicklung von Lösungen mit den Menschen vor Ort. Leicht ist das wiederum nicht, angesichts den den Parteien im ländlichen Raum wegbrechenden Strukturen.

Was der Linken in der ostdeutschen Peripherie weggebrochen ist, das hat sie mit Zugewinnen anderswo kompensieren können: in Städten, bei den Jungen, im Westen. Ist das nachhaltig, oder wählen die alle in vier Jahren eh wieder eine in der Opposition konsolidierte SPD?

Es hat dieses Jahr tatsächlich wieder eine größere Wählerwanderung von der SPD zur Linken gegeben, die wohl dem Liebäugeln mit der Großen Koalition und dem Preisgeben der rot-rot-grünen Option geschuldet ist. Ob das nachhaltig ist, lässt sich kaum sagen – fast drei Viertel der Wählenden hierzulande können sich heute vorstellen, mehr als eine Partei zu wählen. In vier Jahren kann also wieder alles anders sein. Dieser große Zuspruch der Jüngeren darf die Linke durchaus hoffnungsvoll stimmen, denn er ist Ausdruck eines schon länger fortschreitenden Umbruchs. Es treten ja auch viele Junge ein – in eine Partei, die eine andere ist als vor zehn Jahren.

Und die jetzt alte Feindschaften begraben und mit der SPD in der Opposition Seit’ an Seit’ für einen Politikwechsel streiten wird?

Das wird maßgeblich davon abhängen, ob die SPD einen Plan hat. Sie ist jetzt mehrfach strategielos in Wahlkämpfe und Regierungen gegangen. Es gibt keinen sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurf mehr. Aber es braucht eine Alternative zu dem, was einerseits von rechts kommt, all das Völkisch-Nationale, und andererseits von Merkel: die Weiter-so-Moderation der kapitalistischen Entwicklung. Wenn es SPD und Linke nun nicht schaffen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, der für beide attraktiv ist und eine Idee enthält, wie die Zukunft besser werden kann, geht das Zeitfenster für linke Mehrheiten auf Dauer zu. Das ist die letzte Chance.

Aber wo soll der gesellschaftliche Zuspruch für solch eine Zukunftsidee denn herkommen?

Wir kennen die Stimmungslage im Land aus Befragungen: Viele Leute sind mit ihrer eigenen Situation durchaus zufrieden, sie befürchten aber, die Entwicklung werde sich real immer weiter von dem entfernen, was sie für gut und richtig halten. Darauf muss man ja nicht mit Pessimismus reagieren. Es wird aber nicht reichen, einfach nach einem Investitionsprogramm zu rufen. Ein Ansatzpunkt ist, in Sachen Digitalisierung nicht nur davon zu reden, dass man den drohenden Jobverlust moderieren muss. Was kann durch den Einsatz digitaler Technik besser werden – etwa um das Leben in schrumpfenden Regionen lebenswert zu gestalten. Wie sieht moderne Mobilität in der Uckermark aus? Wie kann Digitalisierung helfen, den wachsenden Bedarf an Pflege in den Griff zu kriegen und alten Menschen ermöglichen, länger in vertrauter Umgebung zuhause zu leben? Solche Fragen müssen außerhalb von Profitinteressen beantwortet werden: Wie kann eine bessere Zukunft aussehen? Und warum ist sie möglich?

Klingt super, doch gerade in ländlichen Regionen wie der Uckermark hat das Thema Migration viele Leute bei der Wahl geleitet.

Wohl wahr. Wahrscheinlich können sich die einen nicht vorstellen, wie das Zusammenleben mit Migranten in ihrer schrumpfenden Heimatregion gehen soll, und die anderen, weil sie unter sich bleiben wollen. Es kommt da seit 2015 etwas hoch, was zu rumoren begann, als die Union plötzlich von der Einwanderungsgesellschaft redete. Kurz zuvor hatte sie noch Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gesammelt und „Kinder statt Inder“ gerufen. Diese Wendung hat die CDU immer nur ökonomisch mit „Fachkräftemangel“ erklärt. Man sollte den verschiedenen Sichtweisen auf das Thema nachspüren, nur dann wird man Rassismus erfolgreich begegnen können; und man sollte klären, wie genau das denn funktionieren soll mit der Einwanderungsgesellschaft.

Die Linke fordert „offene Grenzen für alle Menschen.“

Mein Ziel wäre zuerst, dass keiner gezwungen wird, sein Land zu verlassen. Alle in Deutschland wissen heute, dass es sehr gute Gründe für Menschen gibt, hierher zu migrieren. Der beste Weg dahin, dass eine große Mehrheit offene Grenzen akzeptiert, muss davon ausgehen, dass es heute nicht so ist. Und Mehrheiten schrittweise auf dem Weg dahin gewinnen.

Aber wie?

Indem wir dazu beitragen, dass es viel mehr Orte als heute auf der Welt gibt, an denen sich gut leben lässt. Indem es auf EU-Ebene einen Topf mit Geldern für Aufnahme und Integration Geflüchteter gibt, um die sich Kommunen und nicht Staaten bewerben können, wie das Gesine Schwan vorgeschlagen hat. Und indem auch die Linke über ein Einwanderungsgesetz redet, statt zu sagen: Offene Grenzen, und gut is’. Heute bietet fast ausschließlich das Nadelöhr des Asylrechts eine Möglichkeit zu legaler Einwanderung, was nicht gut ist für die Aufrechterhaltung des Grundrechts auf politisches Asyl.

Kann es nicht sein, dass eine Doppelstrategie aus Wagenknecht-Positionen einerseits und denen Katja Kippings andererseits noch am besten aufgeht?

Das wäre ansich eine hervorragende Grundkonstellation, um die nötige Auseinandersetzung zwischen linkem Universalismus und nationalstaatlicher Realität von Regelungen zu führen. Wer sagt, dieser Konflikt stelle kein Problem für die Linke dar, lebt in einer politischen Traumwelt. Allerdings: Lesen Sie die Wortmeldungen aus der Partei. Sie sind eher geprägt von innerparteilichen Machtkämpfen und persönlichen Befindlichkeiten. So wird das keine produktive Debatte.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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