Die Frau ist mindestens einen Kopf kleiner als er, fast lehnt sie ihre weißen Haare an Bodo Ramelows Schulter, gibt ihm die Hand, sagt: „Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern“, sei ja schon bald 30 Jahre her, die HO-Läden in Gera, sie Betriebsrätin, er Gewerkschafter aus dem Westen, Ramelow lächelt, „Na klar, darum kenne ich doch alle in Thüringen, bin da ja überall rumgekommen.“ Bedanken möchte sie sich, sagt die Frau, „Sie waren eine so große Hilfe.“
Altenburg an einem Donnerstagabend, knapp zwei Stunden Ramelow-Show sind gerade vorbei, der Ministerpräsident am Händeschütteln auf dem Weg raus zu den zwei BMW-Limousinen mit Blaulicht, ein paar Meter weiter parkt der rote Kleinbus mit 26 Terminen auf der Heckscheibe – gestern Eisenach, morgen Stadtroda, dann Bad Blankenburg, „Bodo Ramelow vor Ort: Politisch. Persönlich. Direkt.“ 80 Stühle waren bestellt, sagt die Frau, die im Foyer des Logenhauses Altenburg Pils ausschenkt, am Ende kamen mehr als 150 Besucher, hier im Dreiländereck mit Sachsen-Anhalt und Sachsen.
Dass es um die Linke in Thüringen völlig anders bestellt ist als anderswo im Osten, sie in Umfragen für die Landtagswahl am 27. Oktober an den 30 Prozent kratzt und ihren republikweit ersten Ministerpräsidentenposten verteidigen könnte, hat vor allem mit dem Amtsinhaber zu tun. Mit seiner West-Ost-Geschichte. Und mit dem, was er heute aus dieser Geschichte macht.
In Altenburg hat die Linke viel Material mit Ramelows Gesicht ausgelegt, daneben steht ein Stapel roter Bücher zum Verkauf, Der Rote, eine Begleitung der ersten Monate der rot-rot-grünen Landesregierung Ende 2014, Anfang 2015, geschrieben vom Thüringer Schriftsteller Landolf Scherzer. Das Buch ist vor allem eine Annäherung an den 1956 am Teufelsmoor nördlich Bremens geborenen Ramelow und dessen Affinität zum Osten. Die nicht erst begann, als er 1990 für die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) von Hessen nach Thüringen kam.
Die Halbbrüder in der DDR
Das kurze Leben seines Vaters spielte in Ost wie West, geboren in Salzwedel, eröffnet er nach dem Krieg im Westen einen Tante-Emma-Laden, der bald wegen der Konkurrenz durch neue Billigketten schließen muss, geht für einen Neuanfang in die DDR, soll dann Kundschafter werden, kehrt deswegen schnell zurück und stirbt in den 1960ern. Mutter und Kinder ziehen nach Hessen, dort wird Bodo groß, erfährt spät von zwei Halbbrüdern aus früherer Ehe des Vaters in der DDR, macht sie dort 1985 mit Hilfe der evangelischen Kirche ausfindig, der eine ist bei der Volkspolizei. Den anderen kann er besuchen, dessen Werdegang verfolgen: eine Operation zur Linderung seiner Multiplen Sklerose scheitert an Ärzteknappheit wegen der West-Migration sowie Spezialbohrer- und Devisenmangels der DDR, er sitzt endgültig im Rollstuhl, seine Frau wird später langzeitarbeitslos.
Dies ist die Vorgeschichte, die vielleicht zu erklären vermag, warum aus Ramelow in Thüringen einer wurde, der an der Seite der Menschen gegen Treuhand-Ausverkauf und kalte Massenentlassungen kämpft, wofür ihm die HO-Frau aus Gera bis heute dankbar ist. Warum er die Kali-Kumpel in Bischofferode bei ihrem Hungerstreik unterstützt, an der Seite Landolf Scherzers, der dort Solidaritäts-Lesungen hält.
Scherzer hat nicht erst Bodo Ramelow begleitet, sondern schon 1988 den SED-Kreissekretär Bad Salzungens, Hans-DieterFritschler (Der Erste), und 1992 den CDU-Landrat derselben Stadt zwischen Rhön und Thüringer Wald, Stefan Baldus, für das Buch Der Zweite, in dem es nur so wimmelt von Wessis im Osten. Einer von ihnen: der IG-Metaller Peter Winter, den sie Anfang der 1990er am Stammtisch als „jungen Revolutionär“ feiern, der schon im Westen fest aufseiten der Arbeiter gestanden habe und das jetzt im Osten nicht anders hielte. Winter reißt sich später mit die Reste des Immelborner Hartmetallwerks unter den Nagel. Jetzt verfluchen die Stammtischbrüder den Gewerkschafter, der in Hessen ja zwei Häuser besitze, „schlimmer als Aasgeier“. Gegen Winter wird wegen millionenfachen Treuhand-Fördergeld-Betrugs ermittelt. Im Grunde ist der Mann das genaue Gegenbild zu Bodo Ramelow.
Doch würde der heute, bald 30 Jahre später, nur auf seinen Nimbus des damals Ehrlich-Solidarischen setzen, es würde wohl kaum alleine für seine lagerübergreifend hohen Zustimmungswerte reichen. Nein, Ramelow spricht nur wenig über das, was war, im Osten. Er ist meist gleich bei dem, was ist, und das in einer Art, an die vielleicht kein ostdeutscher Politiker der Gegenwart heranreicht. Deutlich wird das etwa an einem Nachmittag Ende August in Weimar.
Die Linken-Bundestagsfraktion hat zur „Ostkonferenz“ geladen, bis zu den Wahldebakeln in Brandenburg und Sachsen sind es noch ein paar Tage hin, aber sie liegen schon in der Luft. Von den Funktionären auf dem Podium: viel Klagen über die Ost-West-Ungerechtigkeiten, hat man alles schon so oft gehört, zuletzt nicht mehr nur von der Linken. Von den Genossen im Publikum: viel Klagen über zu wenige Junge und fehlenden Elan bei der Arbeit an der Basis, in den Wahlkämpfen.
Die Jungen fehlten auch bei ihnen in Apolda, sagt Doris Hüttenrauch, Genossin seit 1973, beim Thüringer Grillbuffet in der Pause, nur zwei, drei Neueintritte in den vergangenen paar Jahren. Aber das mit dem Wahlkampf sei ein bisschen anders, denn „der Ministerpräsident ist der große Vorteil“. Hüttenrauch kommt ins Reden über den Osten und den Westen, ist bald beim früheren Freund ihrer Tochter – ein Wessi, „der war so lustig, so nett, hat ihr richtig gutgetan“, ging dann irgendwann auseinander. „Eines an dem hat uns immer so irritiert: dieses völlig unbekümmerte, selbstverständliche Selbstbewusstsein.“ Als Bodo Ramelow nach der Pause in Weimar vor die rund 100 Leute auf die Bühne tritt, ist es, als hätte Hüttenrauch gerade in der Pause von ihm geredet.
Ramelow schraubt das Mikro ab, er wird wie immer völlig frei reden, startet: „Kennt ihr Croma?“ Was folgt, ist die Geschichte der VEB Feintechnik Eisfeld, die die Croma-Rasierklingen produzierte. Deren Produkte es bis heute in jedem dm-Markt zu kaufen gäbe, Marktführer in Vietnam, vor ein paar Jahren seien da diese Start-up-„Freaks“ aus New York auf die Klingen aus Thüringen aufmerksam geworden, „die suchten was cooles, geiles Neues“ für ihren Internethandel, „ihr wisst ja, Internet der Dinge, Internet können die Amerikaner, Dinge nicht so“, also: „Nassrasierer für Kerle“.
Die Amerikaner stiegen ein, investierten, rund 600 Mitarbeiter arbeiten jetzt in Eisfeld. Vor Kurzem hat der Wilkinson-Sword-Produzent Edgewell sie übernommen, für mehr als eine Milliarde Dollar – „weil die Kollegen hier bei uns wissen, wie man gute Produkte herstellt“, ruft Ramelow fast schon frenetisch in den Saal.
Positive Irritation
Weiter geht es mit der Gummiproduktion in Meuselwitz, ohne deren Dichtungen heute kein Tunnel, kein Bully, kein Käfer auskäme; die Start-up-Forscher in Jena und ihr Krebsmittel, jeder dritte Daimler weltweit mit einem Motor aus Kölleda, „aber von den Gewerbesteuereinnahmen hat die Gemeinde Kölleda so gut wie nichts“, weil wie bei weiteren 461 der 500 dominierenden Konzerne in Deutschland am Sitz im Westen abgerechnet werde. Weshalb er es leid sei, dass ihm aus den West-Bundesländern vorgehalten werde, Thüringen gebe zu viel Geld für Betreuung und Bildung aus, 97 Prozent der Kinder hier gingen in den Kindergarten, sollten sie doch im Westen selber mehr ermöglichen als die vier Stunden pro Tag wie in Niedersachsen.
Eine halbe Stunde redet Ramelow so, im Publikum weicht die Lethargie positiver Irritation. Die Genossen klatschen und melden sich zu Wort, danken für die klaren Worte, für den Blick nach vorne und dafür, dass die Linke ja doch noch jemanden außer Gregor Gysi habe, der so redet, dass alle es verstehen.
Sechs Wochen später in Altenburg sind es ganz ähnliche Geschichten, die viele im Publikum heftig nicken und applaudieren lassen. Wenn Ramelow, anstatt über all die aus dem Osten Abgewanderten zu klagen, von den „zwei Millionen Aufbauhelfern“ spricht, „die wir nach der Wende in den Westen geschickt haben“. Auch hier packt er die Gesine-Lötzsch-Anekdote aus: wie er, neu im Bundestag, diese Postkarte mit der Genossin Lötzsch als Schwester Agnes auf der Schwalbe entdeckte, „Oh, Gesine, was ist das denn für ein Scheiß?“ Ramelow lernte dann über Schwester Agnes aus dem Defa-Film, die medizinisch voll ausgebildete Gemeindeschwester für die Versorgung im ländlichen Raum, wenn das mal die Wessis kennen würden, so etwas bräuchte es in abgehängten Gemeinden am Teufelsmoor und anderswo doch auch! In Thüringen haben sie das Konzept in der letzten Legislatur wieder eingeführt, die Schwester heißt jetzt „Vera“, denn: „darf ja nicht nach DDR riechen“, zwinkert Ramelow.
Dass er viel Nützliches aus Ost und West in sich vereint, ohne nur über die Vergangenheit zu lamentieren, das ist ein Grund dafür, dass die mit nur einer Stimme Mehrheit gestartete rot-rot-grüne Koalition alle Unkenrufe Lügen strafte. Ein anderer ist sein Pragmatismus, der nicht allen gefallen mag. Ganz am Anfang etwa traf Ramelow als einen der Ersten den Präsidenten des Landesbauernverbands – übrigens Landolf Scherzers früherer CDU-Landrat Stefan Baldus in Der Zweite. Und versprach ihm, den Grünen nicht die ministerielle Zuständigkeit für die Landwirtschaft zu geben.
Das Versprechen hielt – ebenso wie die rot-rot-grüne Koalition. Ihre Fortsetzung wird wohl nicht am Resultat der Linken scheitern. Grüne und SPD sahen Umfragen zuletzt bei je neun Prozent, ein Patt zwischen Rot-Rot-Grün hier sowie CDU und AfD dort zeichnet sich ab. In Altenburg wirbt Ramelow also fast schon für Leihstimmen zugunsten seiner Koalitionspartner. Er sagt: „Sie haben bei dieser Wahl sogar drei Varianten, um mich zu wählen.“
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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!
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