„Deutschland als Opfer der Krise? Quatsch!“

Interview Gerhard Schick kämpft als Bundestagsabgeordneter seit Jahren für die Zähmung der Finanzmärkte
Ausgabe 35/2018

Er gehört dem Bundestags-Finanzausschuss an und hat seit Ausbruch der Finanzkrise zwei Untersuchungsausschüsse angestoßen – den zur 2009 infolge ihrer Zockerei verstaatlichten Hypo Real Estate und den zu Cum-Ex.

Dabei konnte der Grüne Gerhard Schick zwar immer wieder Details der Schwächen staatlicher Regulierung gegenüber privaten Finanzmarktakteuren offenlegen, aber stets nur sein Minderheitenvotum entgegenstellen, wenn Regierungsfraktionen im Abschlussbericht urteilen: Alles gar nicht so schlimm.

Inzwischen, nach diesem Interview, hat Schick bekanntgegeben, Ende 2018, nach 13 Jahren im Bundestag, sein Mandat niederzulegen, um sich in der neu gegründeten "Bürgerbewegung Finanzwende" zu engagieren.

Zur Person

Gerhard Schick, 46, hat Europäische Wirtschaft in Bamberg, Wirtschafts- und Politikwissenschaft in Madrid sowie Volkswirtschaftslehre in Freiburg studiert und dort in Finanzwissenschaft promoviert. Seit 1996 ist er Mitglied der Grünen, seit 2005 Abgeordneter des Bundestages. Schick hat die Bücher Machtwirtschaft – nein danke! (2014) und, mit Sven Giegold und Udo Philipp, Finanzwende: den nächsten Crash verhindern (2016) veröffentlicht. Er lebt in Mannheim und Berlin

der Freitag: Herr Schick, wissen Sie noch, wo Sie am 5. Oktober vor zehn Jahren waren?

Gerhard Schick: Das waren heftige Tage damals. Ich erinnere mich, dass ich in jenem Oktober bei der jährlichen Tagung des IWF war, hierzulande wurde damals der Finanzmarktstabilisierungsfonds aus der Taufe gehoben. Aber die große Ankündigung von Angela Merkel und Peer Steinbrück, das war ein paar Tage vorher, oder?

Nein, das war am 5. Oktober. Die Kanzlerin und der Finanzminister sprachen in die Kameras: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind, auch dafür steht die Bundesregierung ein.“

Mir war gleich klar: Das geht gar nicht. Ein Bundeshaushalt kann von der Größenordnung her nicht die Summe der Ersparnisse decken. Lehman, Schieflage der Hypo Real Estate, Turbulenzen in Irland: Es war in diesen Tagen zu merken, wie sehr getrieben die Politik ist.

Steinbrück hatte ein paar Tage vor dem 5. Oktober gesagt: „Die USA, darauf lege ich gesteigerten Wert, sind der Ursprung der Krise und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht Europa und es ist nicht die BRD.“ Hatte er recht?

Nein. Diese Krise war wirklich eine globale Finanzkrise: die Immobilienblasen in Irland, Spanien oder Zypern. Die viel zu großen Bankbilanzen in Island, Lettland und Portugal. Das war alles zu diesem Zeitpunkt bekannt und das hatte erst mal nichts mit den USA zu tun. Und die dortige Immobilienblase wäre ohne sehr viel deutsches Geld auch nicht möglich gewesen. Deshalb ist es völliger Quatsch, dass Deutschland nichts mit alldem zu tun hatte. Zumal wir bei der Schiffsfinanzierung eine eigene Blase hatten, die es so wirklich nur bei uns gab. Steinbrück wollte damals Verantwortung von sich selbst und Deutschland ablenken und sich als Opfer gerieren.

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Die Schifffahrtsblase – was hatte es damit genau auf sich?

Deutschland hat etwa 40 Prozent der gesamten internationalen Schiffsproduktion finanziert. Da wurden Schiffe gebaut und von deutschen Banken in Volumina finanziert, die es gar nicht brauchte am Markt. Einige Banken hatten damit ein riesiges Klumpenrisiko: Sie haben einen viel zu großen Anteil ihres Kreditportfolios in nur einen Markt gesteckt, sodass es für sie dann dramatisch war, als dieser Markt zusammenbrach. Praktisch alle Banken, die damit zu tun hatten, sind in massive Schwierigkeiten geraten, allen voran drei Landesbanken: Die Bremer Landesbank ist schon verschwunden, für die HSH Nordbank mussten die Bürger Hamburgs und Schleswig-Holsteins Milliardenlasten tragen, bei der Nord / LB ist noch nicht sicher, ob und wie sie überleben wird. Auch bei der Commerzbank kam ein großer Teil der Schieflage aus der Schiffsfinanzierung.

In der kollektiven Erinnerung an 2008 und die Folgen spielt dies kaum eine Rolle.

Ja, weil viele beteiligte Politiker von dieser ureigenen deutschen Bla-se abzulenken versuchten und so taten, als sei man einem Sturm aus den USA ausgesetzt – das war politisch natürlich angenehmer und steht in Zusammenhang damit, dass in Deutschland praktisch niemand politische Verantwortung übernommen hat, dass es keine Verurteilung von Bankern und anderen Beteiligten gab. Die deutsche Finanzaufsicht hätte gar nicht erst zulassen dürfen, dass hiesige Banken einen so großen Anteil ihres Geschäfts in einem einzelnen Marktsegment haben.

Wie hat sich die deutsche Finanzaufsicht in den vergangenen zehn Jahren verändert?

Es gab eine große Veränderung, nämlich die Europäisierung der Bankenaufsicht. Die konnte in der EU glücklicherweise durchgesetzt werden – gegen den eigentlichen Willen der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung. Hätten wir von vornherein solche europäischen Strukturen gehabt, wäre es viel leichter gewesen, etwa die Hypo Real Estate zu kontrollieren, ihr Scheitern zu vermeiden oder sie im Falle des Scheiterns zu geringeren Kosten abzuwickeln. Denn die HRE hatte 2007 eine irische Bank erworben, die wir in Deutschland retten mussten. Eine zweite Veränderung war, dass es – zumindest für einige Zeit – mehr Rückendeckung aus dem politischen Berlin gab, sodass die Finanzaufsicht mal kritisch nachfragen konnte und bestimmte Personalentscheidungen nicht nur einfach durchgewunken wurden.

Sie sprechen in der Vergangenheitsform.

Ja, das hat nicht lange angehalten. Immerhin hat die Aufsicht ein paar neue Kompetenzen bekommen, etwa beim Verbraucherschutz. Aber sie ist nach wie vor sehr reaktiv tätig, prüft sehr stark nach einzelnen rechtlichen Kriterien, anstatt ökonomisch dranzugehen und zu schauen: Kann eigentlich funktionieren, was die da machen? Daher haben wir zuletzt wieder einen großen Anlageskandal erlebt, den wohl größten in der Geschichte der Bundesrepublik, bei P & R, mit über drei Milliarden Euro Schaden sowie mehr als 50.000 Betroffenen.

Was ist da genau passiert?

Es geht wieder um Schiffe! Diesmal um Container: Anleger werden mit sogenannten Direktinvestments Eigentümer von Containern, die dann vermietet werden. Das hat über einige Jahre wohl ganz gut funktioniert, dann wurde anscheinend ein Schneeballsystem daraus, in dem das Geld neuer Anleger genutzt wurde, um alte Anleger zu bedienen – am Ende haben Leute Container gekauft, die gar nicht existierten. Es gab Informationen, an denen man erkennen konnte, dass da was nicht stimmt. Experten etwa der Stiftung Warentest haben relativ früh gewarnt – die staatliche Finanzaufsichtsbehörde Bafin hingegen nicht.

Es gab ja durchaus Maßnahmen, den Staat im Finanzbereich mit mehr Personal, Expertise sowie politischer Rückendeckung auszustatten – in Nordrhein-Westfalen in Bezug auf Steuerkriminalität etwa, mit Norbert Walter-Borjans als SPD-Finanzminister. Die Regierung wurde abgewählt. Ist den Leuten das Thema egal?

Ich glaube, in diesem konkreten Fall nicht, bei Wahlen spielen stets mehrere Themen eine Rolle, und Walter-Borjans hatte ja viel Unterstützung aus der Bevölkerung. Aber allgemein gibt es natürlich das Gefühl, dass der Staat nichts gegen diese Machenschaften tut, dass Vorstände eine Bank gegen die Wand fahren und trotzdem im Amt bleiben, während die Gesellschaft die Bank mit Milliarden retten muss. Das ist für eine Demokratie fatal.

Ist der heutige Rechtsruck eine direkte Folge der Krise, die vor zehn Jahren begann?

Ich sehe diesen Zusammenhang, ganz klar, ja. Es gibt eine sehr gute Untersuchung des Bonner Volkswirts Moritz Schularick (siehe Seite 13), die zeigt, dass die Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts typisch für Finanzkrisen ist. Es ist eben kein Zufall, dass sich die AfD in der Euro-Krise gegründet und der Rechtsruck im deutschen Parteiensystem damit mitten in der Finanzkrise begonnen hat.

Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, ist bis heute ein AfD-Lieblingsfeindbild.

Er und die EZB haben die Krise mit ihrem Instrumentarium nicht verursacht und nicht gelöst, sondern sie letztlich verlagert und so der Politik Zeit verschafft. Gerade Deutschlands Blockadehaltung gegen ein gemeinsames europäisches Vorgehen hat dazu beigetragen, dass die Eurozone immer noch am Tropf der lockeren Geldpolitik hängt. Da wird auf den Falschen geschimpft.

Viele Deutsche sehnen den endgültigen Ausstieg der EZB aus der expansiven Geldpolitik herbei. Kann der überhaupt gelingen in absehbarer Zeit?

Nur, wenn die realwirtschaftlichen Voraussetzungen da sind. Und das geht nur mit einer ganz anderen Finanzpolitik.

Eine andere Partei stellt ja jetzt den deutschen Finanzminister, die SPD ...

Olaf Scholz hat sehr deutlich gemacht, dass er fast alles so machen möchte wie sein Vorgänger Wolfgang Schäuble. Das heißt: eine rote statt einer schwarzen Null. Viel zu geringe Investitionen. Deutschland als Reformbremse in Europa.

Ist es gut oder schlecht, dass er mit Jörg Kukies einen Goldman-Sachs-Banker als Staatssekretär geholt hat?

Ich bin durchaus dafür, dass man kompetente Leute aus der Privatwirtschaft holt. Aber als Finanzminister der SPD bei einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker, der undurchsichtige Produkte strukturiert hat, die sinnbildlich für die Finanzkrise stehen, davon auszugehen, dass er sein Know-how komplett in den Dienst des Steuerzahlers stellt, ist zumindest erklärungsbedürftig.

Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit von Kukies?

Es ist gegenwärtig noch zu früh, um das zu beurteilen.

Ist die Finanzkrise, die vor mehr als zehn Jahren begonnen hat, heute überhaupt vorbei?

Nein. Sie hat angefangen bei den Banken und Fonds, wurde dann zur Staatsschuldenkrise, und inzwischen sind wir in einer Wohnkrise: Immobilien sind zu sicheren Anlageobjekten geworden, deswegen können sich normale Menschen Häuser und Wohnungen kaum noch leisten. Außerdem frisst sich die Krise jetzt in die Lebensversicherungen und Pensionskassen, was für einige Leute und ihre Altersvorsorge echt bitter werden kann, wenn wir die Überwindung dieser Krise nicht endlich mit einer Finanzwende wirklich angehen und die Finanzmärkte wieder in den Dienst der Gesellschaft stellen.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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