Mal ehrlich: Hätte es an diesem Wahlabend doch gereicht für eine rot-grün-rote Mehrheit – was wäre für die Linke damit gewonnen gewesen? Eine realistische Perspektive auf den Einzug in Ministerien wohl kaum, allenfalls Antäusch- und Verhandlungsmasse wäre sie gewesen im rot-schwarz-grün-gelben Ringen um die nächste bürgerliche Regierung. Von der SPD zu Sondierungen eingeladen zu werden, das hätte immerhin ein Signal sein können an die übergroße Mehrheit der Linken-(Ex-)Wähler, die unzufrieden sind mit Jahrzehnten bundespolitischer Opposition und immer weniger daran glauben, dass ihre Stimme an den Verhältnissen wirklich etwas ändert. ,Seht ihr, die anderen wollen nicht‘, hätte sich nach dem Scheitern der Gespräche dann sagen lassen. Darauf hofften die Parteistrategen im Karl-Liebknecht-Haus, doch nicht nur diese Hoffnung wurde mit dem heutigen Tag bitter enttäuscht.
Das Wahlergebnis mit minus vier Prozent fast halbiert, im Osten mit minus sieben Prozent sogar noch stärker verloren, bei den Erstwählern mit acht Prozent auf dem vorletzten Platz knapp vor der AfD, 0,1 Prozent unter der Fünf-Prozent-Hürde, 600.000 zur SPD und mehr als 400.000 zu den Grünen abwandernde statt an die eigene Regierungschance glaubende Wähler – mancher Linke wünscht sich von der Wahlparty in Berlin wohl nach Graz, wo die KPÖ gerade sensationell die Gemeinderatswahl gewonnen hat. Immerhin garantieren wohl die absehbar gesicherten drei Direktmandate in Berlin-Treptow-Köpenick, Berlin-Lichtenberg und Leipzig-Süd den Verbleib in Fraktionsstärke im Bundestag.
Hartz IV? Kein Thema
Es hat sich bestätigt, was der Soziologe Stephan Lessenich im März im Freitag so atemberaubend nüchtern in Bezug auf das Linken-Herzensthema Hartz IV gesagt hatte: „Es handelt sich dabei, leider, nicht um einen relevanten Punkt für die Wahlentscheidung einer Mehrheit.“ Was auch passiere, „Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Pandemie, die Linke profitiert davon einfach nicht“, sei vielerorts bedeutungslos.
Woran das liegt, darüber werden in diesen Stunden mit Sicherheit unter Genossinen und Genossen Argumente ausgetauscht, von denen zu befürchten steht, dass man sie alle schon tausendmal gehört hat. Die einen werden Sahra Wagenknecht schimpfen und die anderen darüber, dass Leute in der eigenen Partei eine der prominentesten Politikerinnen des Landes lieber verstecken und attackieren.
Aus dem Umgang mit Wagenknecht in Teilen der Linken spricht alles andere als machtpolitisches Kalkül – was ungünstig aufscheint, gibt die eigene Führung sich zugleich alle Mühe, im Spiel um die Macht mitspielen zu dürfen. Die Kommunitaristen wiederum sind mit ihrem Formationsversuch der Sammlungsbewegung Aufstehen sang- und klanglos baden gegangen.
Weiter als es scheint
Tatsächlich aber ist die Linke weiter, als es an so einem für sie miserablen Tag die diesem scheinen mag. Die internen Streits sind abgeflaut, ein Gesprächskanal zwischen der Parteispitze und Wagenknecht ist hergestellt. Und auch was das ihr zugeneigte Parteimilieu gern als Schallplatte auflegt – „Stärker auf die soziale Frage setzen!“ – hat einen Sprung: Klar erkennbar war das Bemühen in den vergangenen Wochen und Monaten, über Arbeit, Rente und Hartz IV zu sprechen; die Linke ist damit nur nicht durchgedrungen – irrelevant „für die Wahlentscheidung einer Mehrheit“.
Doch das wird sich ändern. Die post-pandemischen Verteilungskämpfe werden, umso mehr bei einer Regierungsbeteiligung der FDP, virulent werden. Insbesondere idealistische Wählerinnen der Grünen werden die enttäuschenden Härten des Regierungsalltags kennenlernen. Und egal ob Jamaika, Ampel oder GroKo – die nächste Bundesregierung wird die ökologische Transformation vor allem über die Preise zu regeln versuchen und die soziale Dimension unzureichend mitdenken. Doch will die Linke davon profitieren, wird sie sich auch mit Milieus zu befassen haben, wie sie bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich aufschienen und meist nicht urban wohnen, nicht kosmopolitisch denken und bisher nicht wie selbstverständlich von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Die Partei sollte sich zudem eindringlich an die Worte ihres aus dem Bundestag scheidenden Finanzpolitikers Fabio De Masi erinnern und beheben, dass sich unzählige mit den migrationspolitischen Implikationen des Phantasmas „Offene Grenzen für alle“ befassen, zu wenige aber mit Steuerpolitik, Ungleichheit, Finanzfragen – und deren Popularisierung in einfacher Sprache.
Friedenspolitik statt Phantasma
Ein Phantasma war auch die Regierungsbeteiligung – doch dass sich die Parteiführung lustvoll auf dieses einließ, auch auf die Gefahr hin, naiv anzumuten, hat nachvollziehbare Gründe in der Notwendigkeit, echte Veränderungsperspektiven aufzuzeigen. Vielleicht ist die Zeit nach dem Schock jetzt eine des Aufatmens: Von der Linkspartei fällt die Last, sich ständig den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wo und wie sehr sie sich noch verbiegen muss, um der SPD und den Grünen als würdig zu erscheinen – und ob sie ihr letztes Alleinstellungsmerkmal, die Friedenspolitik, nicht auch noch räumen muss.
„Für eine Organisation ist programmatisch überzeugtes Abwarten doch völlig okay“, spenden die Worte Stephan Lessenichs aus dem März Trost für die Genossen: „Solange die Linke die sechs, sieben Prozent halten kann, also erwartbar im Bundestag vertreten bleibt, sollte sie ganz auf ihr radikal-sozialökologisches Programm setzen – und in vielleicht zehn Jahren wird sie zu der Partei geworden sein, die seit zehn Jahren genau den Kurs vertritt, der dann gesellschaftlich gefragt ist.“ Dieser Satz kann auch bei knapp fünf Prozent seine Gültigkeit behalten.
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