Am meisten schmerzt, dass nun Ahnungslose Mitleid heucheln. „An ein Ende der Lindenstraße zu meinen Lebzeiten hätte ich nicht geglaubt“, ließ Christian Lindner (FDP) wissen. „Ich war kein Zuschauer, aber irgendwie gehört die Serie zum Inventar der TV-Republik. Vielleicht das Problem: Man erinnert sich, schaut aber nicht mehr.“ Juso-Chef Kevin Kühnert schrieb: „Habe nie Lindenstraße geschaut, leide aber mit Euch. War damals bei Marienhof auch sehr hart getroffen.“ Nichts gegen Marienhof – mein Weg zur Lindenstraße führte auch über ein paar Folgen Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Aber Seifenoper ist nicht gleich Seifenoper. Die Lindenstraße hat allen vergleichbaren Formaten nicht nur ihre politisch-gesellschaftliche Relevanz voraus. Sie steht für etwas, was in diesem Land mehr und mehr verloren geht: Kontingenz, die prinzipielle Offenheit von Lebenserfahrungen, auszuhalten und fruchtbar zu machen.
Als die Macher der Serie einer Kritik des Freitag (49/2015) nachkamen und im Herbst 2016 endlich die Folgen der gestiegenen Flüchtlingszuwanderung zum Thema machten, war es nur seiner Behauptung nach ein dem Syrien-Krieg Entronnener, der in der Lindenstraße auftauchte. Jamal entpuppte sich bald als Jugendlicher aus Tunesien; seine nachfolgenden Eltern sind deutschen Behörden bis heute als solche unbekannt, um Jamals Bleiberecht als unbegleiteter Minderjähriger zu wahren. Der Vater, schwer an seiner Perspektivlosigkeit laborierend, schlug später brutal Klaus Beimer nieder, landete im Knast und musste dann ausreisen – allein, denn seine Frau (offiziell: Schwester) konnte dank der Scheinheirat mit Klaus Beimer bleiben – und verliebte sich dann tatsächlich in ihn.
Seit 1985 hat die Lindenstraße nicht einfach nur Geschichten aus dem echten Leben erzählt, sie so hemmungslos wie gekonnt überspitzt und verdichtet; sie hatte nie Angst vor den Brüchen dieses echten Lebens. Das ist wohltuend in Zeiten, in denen vieles nur noch schwarz oder weiß aufscheint, viele nur ‚für‘ oder ‚gegen‘ Migration sein zu können meinen oder etwa Grenzen nur entweder ‚offen‘ oder ‚geschlossen‘ diskutabel sind.
Die Lindenstraße beheimatete linksliberale Milieus im Fernsehprogramm, ohne der Schlichtheit zu verfallen, nur die eigenen Ideale als Selbstverständlichkeit zu preisen. Sie hat diese Ideale mit gesamtgesellschaftlichen Realitäten verschränkt und dabei nicht die Hoffnung auf die Durchsetzbarkeit eines besseren Lebens verloren. Als Vorkämpferin für die Gleichstellung schwuler wie lesbischer Lebensweisen hat sie sich, lange bevor dies Thema einer breiten Öffentlichkeit wurde, ausgezeichnet; der Kampf gegen Spekulanten war der Mieterserie Lindenstraße eh von Anbeginn eingeschrieben. Und, klar: Jamal hat längst seine Ausbildung zum Pflegefachhelfer begonnen.
Solcher Sinn für Realität, Brüche und Perspektiven ist nicht mehr gefragt. Der Aufstand gegen das Ende 2020 bleibt aus. Woher soll er auch kommen? Die Quote ist schlecht, all die Innovationen der Mit-Produzentin und Tochter des Erfinders Hans W. Geißendörfer, Hana Geißendörfer, helfen nicht – nicht die Anbindung an die sozialen Medien, nicht die Einbidung von Musik, nicht die Live-Folgen, nicht das längst gehobenere Niveau der Schauspielkunst.
Über all das ließe sich hinwegtrösten – zum Beispiel mit einem Sendeplatz für investigative Dokumentationen und Reportagen am frühen Sonntagabend! Doch wer traut der quotenhörigen ARD den dafür nötigen Mut zu?
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