Die Unterschätzte

SPD Grimmig, skurril, unerfahren: Das Urteil über die noch kein Jahr amtierende Parteichefin Saskia Esken verrät weniger über sie als über diejenigen, die es fällen
Ausgabe 34/2020
Mit Riexinger kämpfte sie mitten in einer schwarzen Stadt im linken Jugendhaus
Mit Riexinger kämpfte sie mitten in einer schwarzen Stadt im linken Jugendhaus

Foto: Janine Schmitz/photothek/imago images

Saskia Esken hat es fast ganz nach oben geschafft: Sie wird jetzt als Außenministerin gehandelt, zumindest bei der Jungen Union München-Nord. Der dortige Nachwuchs der CDU/CSU hat sich jüngst ein rot-rot-grünes Kabinett gemalt und im Internet herumgereicht, „Vielleicht Ihre nächste Regierung?“, steht über den Köpfen eines grünen Kanzlers Robert Habeck und einer linken Innenministerin Katja Kipping, dazwischen SPD-Chefin Esken, zuständig für das Auswärtige Amt. Fantasie haben sie bei der JU, auch die, Kanzlerkandidat Olaf Scholz bei der Aufstellung einfach zu übergehen. Aber wer weiß? Bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 ist noch viel Zeit. Esken als Außenministerin jedenfalls, das wäre tatsächlich eine gewitzte Pointe ihres bisherigen Aufstiegs.

Wohl kaum ein anderes Ministerium gilt als dermaßen von Standesdünkel geprägt, von tadelloser Herkunft und exzellenten Bildungsabschlüssen seiner Beamten, von stets wohltemperierter Sprache und bedacht gewählten Worten, im Sinne der Diplomatie.

Marge Simpson als Vorbild

Saskia Esken, 58, aufgewachsen im baden-württembergischen Renningen, „einige Semester Studium der Germanistik und der Politikwissenschaften“ in Stuttgart, ungelernte Tätigkeiten in der Gastronomie, als Fahrerin und Schreibkraft, Ausbildung zur staatlich geprüften Informatikerin, einst Landeselternbeiratsvizevorsitzende, wählt ihre Worte nicht unbedingt stets bedacht und im Sinne der Diplomatie. Sie schreibt und redet eher so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Über „latenten Rassismus“ in deutschen Sicherheitsbehörden, gegen „Covidioten“, voller Zuneigung zu Antifa und demokratischem Sozialismus. Im Außenamt würden sie wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Es kommen ja jetzt schon etliche im politisch-journalistischen Betrieb nicht auf die Frau klar, die seit acht Monaten mit Norbert Walter-Borjans die SPD führt und ihr Profil bei Twitter mit einer Karikatur im Simpsons-Stil versehen hat. „Ich weiß, dass mein nicht unbewegtes Leben in all seinen Facetten das aus mir gemacht hat, was ich bin, und das ist auch gut so“, sagt Saskia Esken.

Hinterbänklerin, unerfahren, unberechenbar, wahllos zusammengecastet mit freundlicher Unterstützung der Jusos, naiv, skurril, schroff, verbissen, dieser Dialekt, diese grimmig wirkende Mimik; die kennt doch keiner, all das ist über die Vorsitzende der SPD geschrieben worden, seit sie dem ehemaligen NRW-Finanzminister Walter-Borjans eine SMS schickte, ihn fix kennenlernte und mit ihm zu 23 SPD-Regionalkonferenzen tourte, um schließlich von 114.995 Mitgliedern gemeinsam als neues Duo an die Spitze der Partei gewählt zu werden.

Es fragt sich, über wen all diese Urteile mehr verraten – über Saskia Esken oder über ihre Urheber in der Hauptstadtpresse und die vergangenen Zeiten, an denen sie gedanklich noch haften. Zeiten, in denen die SPD eine von zwei Volksparteien war und für sich einen natürlichen Anspruch auf das Kanzleramt reklamieren konnte, in denen die Zahl der Parteien im Parlament kleiner und die Koalitionsbildung vorhersehbarer war, in denen „Quereinsteigerin“ noch ein Fremdwort, die Wahl der Parteispitze keine Angelegenheit der Basis und diese Spitze natürlich mit einem Mann zu besetzen war, nicht mit einer Frau, die sagt: „Im Landesvorstand zu sein, um ganz bestimmt auch immer den richtigen Listenplatz zu bekommen, ist nicht mein Weg.“

Esken, die auf der Landesliste ihrer Partei in Baden-Württemberg bisher auf den hinteren Plätzen 28, 18 und 15 für den Bundestag kandidiert hat, meint zur Kritik an ihr: „Vieles von dem, was da gesagt wird, beziehe ich nicht auf mich persönlich, sondern auf die Rolle als linke Frontfrau mit einem gewissen Selbstbewusstsein. Das löst bei bestimmten Männern offenbar bestimmte Reaktionen aus. Damit muss ich leben, aber das hat mit mir persönlich nichts zu tun.“

Es ist der Freitag vor ihrem zweiwöchigen Urlaub, den sie in Deutschland verbringt. Gerade war sie unten vor dem Willy-Brandt-Haus, Pressestatement zum „informellen Austausch über die Herausforderungen des Schulsystems in der Corona-Pandemie bei Bundeskanzlerin Merkel“. Ein Termin, bei dem sich viele Beobachter fragten, woher der denn plötzlich komme. „Frau Merkel und ich hatten uns da was überlegt“, sagt Esken lächelnd, zurück in ihrem Büro, das aussieht, wie Büros derzeit häufig aussehen: aufgeräumt, leer, das Meiste lässt man ja doch vorerst noch im Homeoffice. Ein Vier-Augen-Gespräch vor zwei Wochen, Bildung als Herzensthema einer ehemaligen Elternbeirätin und einer Kanzlerin, die Lehrerin werden wollte, flugs die Bundes- und sieben Landesbildungsministerïnnen dazu geladen, und fest steht: Es soll jetzt bald Laptops für alle Lehrerïnnen bundesweit geben, Internet zu zehn Euro monatlich für alle Schülerïnnen, bei armen Familien getragen durch den Bund. Zudem Aus- und Fortbildung in neuen „Deutschen Zentren für digitale Bildung“, Breitband für alle Schulen, und vor allem: keine „erneute komplette und flächendeckende Schließung“, weil „das hohe Gut der Bildung“ auch in Zeiten der Pandemie politische und gesellschaftliche Priorität genieße. „Ich bin sehr zufrieden, was wir gestern erreicht haben“, sagt Esken.

Scheint ja doch viel Spaß zu machen, so eine große Koalition mit Angela Merkel und Olaf Scholz. Eine knappe Woche ist die öffentliche Kür des Finanzministers zum Kanzlerkandidaten an diesem Freitag alt. Intern war sie schon einen Monat lang eine ausgemachte Sache. Im Gesicht der als erklärte GroKo-Gegnerin wie Scholz-Kritikerin gewählten Saskia Esken macht sich keine Falte des Selbstzweifels breit, sie sagt: „Ist doch schon erstaunlich, dass wir dichtgehalten haben, oder?“

Das ist es in der Tat. Es verhindert aber nicht Parteiaustritte wie den des Anti-GroKo-Erneuerers Steve Hudson („Danke für nichts, Norbert und Saskia“) und Schlagzeilen wie: „Das war‘s mit der Eskabolation“ (Jacobin). Der Grüne Konstantin von Notz glaubt, mit Scholz stehe eine GroKo-Neuauflage ins Haus, was an eine für seine Partei unangenehme Frage erinnert: Zu welchem Preis ist sie bereit, mit einer Union zu koalieren, die Scholz als Alternative hat?

Das ist jetzt keine Frage für Esken, noch nicht, denn Scholz soll keine Alternative sein, 2021 müsse Schwarz-Rot nun wirklich sterben, damit Rot-Rot-Grün leben kann. Rot-Rot-Grün mit Scholz? „Selbstverständlich“, sagt Esken. Es ist das Only-Nixon-could-go-to-China-Kalkül. Übersetzt bedeutet es: Nur ein rechter Sozialdemokrat wie Scholz kann ein linkes Bündnis vermitteln; und nur eine über linke Milieus hinaus ebenso bekannte wie anerkannte Person wie er könne im ersten Wahlkampf ohne Daueramtsinhaberin Angela Merkel in der so genannten bürgerlichen Mitte punkten.

Ganz neu ist dieses Kalkül nicht und der jetzt vielfach zitierte Parteitagsbeschluss, Koalitionen mit der Linken nicht mehr auszuschließen, ist auch schon sieben Jahre alt. Dennoch, „unterschätzen“ sollte man die Esken nicht, sagt Linken-Parteichef Bernd Riexinger, und der kennt sie seit fast schon einem halben Jahrhundert. In Weil der Stadt, etwa 30 Kilometer westlich von Stuttgart, knapp 20.000 Einwohner – und ja, „Weil der Stadt“ ist wirklich der Name –, war Bernd Riexinger Mitte der 1970er Mitinitiator des Jugendhauses Kloster, einer Initiative linker Lehrlinge und Gymnasiastinnen „mitten in einer hochkatholischen, schwarzen Stadt“. Esken kam dazu, „die war damals schon ziemlich tough“, erinnert er sich. Sie organisierten Geschichtswerkstätten in umliegenden Orten, fuhren in KZ-Gedenkstätten, „kein Wunder, dass sie sich zur Antifa bekennt“. Friedensbewegung, Solidarität mit dem ANC in Südafrika, Jugendarbeitslosigkeit, das waren die Themen. Die SPD war ihnen zu wenig links.

Tatsächlich trat Esken erst mit 30 Jahren ein, obwohl sie sich erinnert, die Sonntage ihrer Kindheit „öfter bei Kreisdelegiertenkonferenzen verbracht zu haben“, mit ihren Eltern, die wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten waren; die Mutter gehöre zu ihren ganz großen Vorbildern, diese habe als Tochter zwischen zwei Söhnen einer alleinerziehenden Frau eine höhere Schulbildung genossen und ihre Arbeit als Buchhalterin zeitweise nachts erledigt, um tagsüber für die Kinder da zu sein. 1990 wurde Esken selbst SPD-Mitglied und engagierte sich für Geflüchtete. Von 1994 an bekam sie drei Kinder im Abstand von je zwei Jahren, wurde dann Elternvertreterin im Waldkindergarten, dann in der Schule; als sie 2012 als Vize in den Landeselternbeirat gewählt wurde, hatte die CDU in Baden-Württemberg gerade nach 58 Jahren die Macht verloren. Hierarchisch geführt sei der Landeselternbeirat damals gewesen, hat sich Eskens damaliger Mit-Stellvertreter in einem Interview erinnert, ideologisch zerstritten zwischen Eltern von Gymnasialschülern und Eltern von Hauptschülern. Fortan sollte es im Südwesten mit Grün-Rot Gemeinschaftsschulen geben. Einen Kulturwechsel hätten sie damals in die Wege geleitet, erfolgreich, Esken habe „durch ihre präzise und moderierende Art maßgeblich dazu beigetragen.“

Das fällt ja schnell herunter, wenn immer mal wieder von der arglos twitternden „Loose Cannon“ Saskia Esken die Rede ist: dass sie so schlecht nicht zu moderieren scheint. Von einer gelösteren Atmosphäre im Willy-Brandt-Haus ist jetzt öfter die Rede, und überhaupt haben ja nicht nur 115.000 Mitglieder für Esken und Walter-Borjans gestimmt. Sondern auch 98.246 für Clara Geywitz und Olaf Scholz. „Es ist keine Kleinigkeit, eine Partei in dieser Lage zu übernehmen“, sagt Riexinger, der mit Scholz politisch nun wirklich nichts anfangen kann, sich aber mit Kritik zurückhält und lieber sagt: „In sozialpolitischen Fragen bewegt sich die SPD auf uns zu.“

Grüner Kanzler? Ja, ginge

Dass das nicht nur mit ihr selbst zu tun hat, vergisst Esken nicht zu erwähnen, „Hartz IV überwinden“, das sei doch bis zu Andrea Nahles unsagbar gewesen in der SPD. Welcher Mann an einer Parteispitze hat zuletzt dermaßen zugunsten seines Vorgängers auf eigene Profilierung verzichtet? Aber wahrscheinlich legen ihr das Kommentatoren ebenso als Schwäche aus, wie sie das gerade mit einer anderen Äußerung im ARD-Sommerinterview getan haben. Einen Tag vor der Präsentation von Scholz wurde Esken nach einer SPD-Regierungsbeteiligung unter grüner Kanzlerschaft gefragt. Sie antwortete, es gehe da nicht um „Eitelkeit“ und bejahte die Frage. Wie kann sie nur, hieß es schnell, das beschädige doch Scholz. Da sind sie wieder, die Reflexe aus alten Zeiten. Denn gerade das ist wohl der Trumpf Saskia Eskens: mit alten Ritualen zu brechen. Gewinnen zu wollen, aber zu wissen und zu sagen, dass es auch anders kommen kann; Grün-Rot-Rot statt Rot-Rot-Grün uneitel für nicht abwegig zu halten.

Beim Springer-Verlag halten sie jetzt noch anderes für nicht abwegig. In der Welt erschien jüngst eine der wenigen Hymnen auf Esken, „den Unterschätzten gelingt mehr“, schrieb Chefredakteur Ulf Poschardt, attestierte eine „lustvolle Spannung zwischen linker Utopie und mittiger Realpolitik“. Sein mutmaßliches Kalkül dahinter hatte er im Text ein wenig versteckt: eine Ampel aus Grünen, SPD und FDP. Noch so ein Mann, der sich in der Beratung Saskia Eskens übt. Es wäre doch einigermaßen überraschend, würde sie ausgerechnet ihm folgen.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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