Utopie vs. Dystopie

Jamaika CDU, CSU, FDP und Grüne sondieren erst einmal. Wir wagen jetzt schon einen Blick in die Zukunft: Wer erhält welchen Job? Und was passiert dann? Hier sind zwei Szenarien
Ausgabe 42/2017

Szenario 1: Lindner ist raus

Utopie Klima, Digitales, Frieden: Alles wird gut!

von Sebastian Puschner


April 2018: Frisch im Amt, prescht der grüne Landwirtschaftsminister Toni Hofreiter vor und kündigt ein bundesweites Verbot des krebserregenden Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat an. Die Lobbyisten von Bayer, dessen Übernahme des Glyphosat-Herstellers Monsanto gerade abgeschlossen ist, toben; doch Kanzlerin Angela Merkel erkennt die Stimmung im Land, hat ihren nächsten Fukushima-Moment und stellt sich hinter Hofreiter, das Verbot kommt.

September 2018: Kurz vor der Landtagswahl in Bayern errichtet eine von den Kirchen getragene Bewegung ihr Protestcamp vor der CSU-Parteizentrale in München. Sie kämpft für die vollständige Wiederherstellung des Rechts auf Familiennachzug für Geflüchtete. Auf dem Weg ins Gebäude stößt Bundesinnenminister Joachim Herrmann (CSU) vor laufenden Kameras einen Pfarrer zu Boden, was ihn das Amt kostet. Nachfolgerin wird die ehemalige Pastorin Christine Lieberknecht (CDU) aus Thüringen, sie weitet das Recht auf Familiennachzug sogar aus. Die CSU erhält das Bundesbildungsministerium, nominiert die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, Johanna Wanka wird Director of Digital Education bei Microsoft Deutschland. Die Unionsposten im Kabinett sind nun, wie von Merkel anfangs versprochen, zur Hälfte mit Frauen besetzt.

Januar 2019: Finanzminister Jürgen Trittin und Digitalisierungsministerin Nicola Beer (FDP) gelten spätestens seit einer Doppel-Homestory in der Gala als das neue Traumpaar der deutschen Politik. Trittin und dessen Staatssekretär Sven Giegold hatten Merkel und Kanzleramtsminister Jens Spahn (CDU) überrumpelt und in Brüssel einem massiven europaweiten Investitionspaket zugestimmt. In dessen Genuss kommen nicht zuletzt Regionen wie die Uckermark, bis dahin völlig vom schnellen Internet abgeschnitten.

Überflieger Lambsdorff

Oktober 2019: Außenminister Alexander Graf Lambsdorff (FDP) wird als Kandidat für den Friedensnobelpreis gehandelt. Er gilt als Mastermind hinter einer deutsch-russisch-chinesischen Abrüstungsinitiative: Die drei Staaten sind dem UN-Atomwaffenverbotsvertrag beigetreten. Auch bei der inzwischen von der UNO konstatierten völligen Befriedung Syriens gilt Lambsdorff als wichtiger Vermittler.

Dezember 2019: Nicola Beer ist zweitbeliebteste Politikerin des Landes, seitdem die ARD-Serie Rathmannsdorf, die im „Sachsen Valley“ (New York Times) spielt, zum Straßenfeger avanciert ist. Der Wahlkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, wo die AfD 2017 noch 35,5 Prozent der Stimmen erzielt hatte, gilt dank der EU-Investitionsgelder als der neue aufregende Ort der internationalen Start-up-Community. Ehemalige DDR-Fernmeldetechniker entwickeln gemeinsam mit syrischen IT-Ingenieuren und vor Trump geflüchteten US-Programmierern eine Pflege-App, die alle diesbezüglichen Probleme des Landes im Nu gelöst hat. Die Serie bildet schlicht die Realität ab, Beer und Gesundheitsministerin Ursula von der Leyen haben Gastauftritte. „Staatsfunk“, krakeelt AfD-Fraktionsvize Alice Weidel, was verhallt: Die Serie sprengt alle Zuschauerrekorde, Netflix plant eine Adaption.

Juni 2020: Erstmals bezeichnen UN-Klimaforscher die Erreichung des Zwei-Grad-Ziels als realistisches Szenario. Als maßgeblich gilt das deutsche Superministerium für Klima, Umwelt, Verkehr und Energie unter Cem Özdemir (Grüne). Architektin der Transformation ins postfossile Zeitalter ist die parteilose Staatssekretärin Claudia Kemfert, zuvor Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. „Oh Claudia, jetzt bist du da, hast das Klima wieder gut gemacht und den Menschen neuen Mut entfacht“, schreibt Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner.

Januar 2021: Neun Monate vor der Bundestagswahl wird es erstmals brenzlig für Schwarz-Gelb-Grün: In der FDP ist ein offener Machtkampf entbrannt. Die Popularitätswerte von Fraktionschef Christian Lindner sind im Keller, Lambsdorff ist beliebtester Politiker Deutschlands und der neue starke Mann der FDP. Arbeits- und Sozialministerin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) versucht, Schaden von der Koalition abzuwenden und verkündet die Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen. Spitzenkandidat der FDP wird Lambsdorff, der die hohe Taktzahl seiner Deutschlandfunk-Interviews nach Amtsantritt beibehalten hat. Jürgen Habermas nennt diese völlig neue Quantität und Qualität unmittelbarer Kommunikation eines Bundesministers mit der Bevölkerung einen „Schritt auf dem Weg zur Deliberation“.


Szenario 2: Özdemir im Transit

Dystopie Türkei, VW, ÖPP: Alles wird noch schlimmer!

von Leander F. Badura


Januar 2018: Das neue Merkel-Kabinett wertet Le Monde als schlimmstmögliche Variante für Emmanuel Macrons Europa-Pläne. Beim Antrittsbesuch in Paris versucht Außenminister Cem Özdemir (Grüne), die Sorgen zu zerstreuen, doch am selben Tag betont FDP-Finanzminister Christian Lindner in einem Gastbeitrag für die FAZ: „Kein deutscher Cent für europäische Schuldensünder!“ Bis zur Landtagswahl in Bayern passiert ansonsten nicht viel. Bundesheimatministerin Julia Klöckner (CDU) und Bundesinnenminister Markus Söder (CSU) sind im Wahlkampfmodus. Klöckner entwirft ein Leitkultur-Papier, dessen ruppiger Ton für Unmut bei Islamverbänden sorgt. Söder kündigt in der Bild Internierungszentren für „Gefährder“ an.

Oktober 2018: Zwei Wochen vor Bayerns Landtagswahl kommt es auf dem Oktoberfest zu einem mutmaßlich islamistischen Terroranschlag. Verdächtigt wird ein abgelehnter marrokanischer Asylbewerber – die CSU bricht in Panik aus, zu Recht: Sie holt ihr schlechtestes Ergebnis seit Gründung, die AfD wird aus dem Stand zweitstärkste Kraft und bietet der CSU an, deren Minderheitsregierung zu tolerieren. In Berlin drohen die Grünen mit Austritt aus der Koalition, sollte die CSU diesem Angebot nachgeben.

November 2018: Horst Seehofer bildet in München eine Koalition mit SPD und Grünen, die Katastrophe scheint vorerst abgewendet. In Berlin nimmt Schwarz-Gelb-Grün die Regierungsgeschäfte auf. Klöckner und Söder legen ein mit FDP-Bundesjustizminister Wolfgang Kubicki abgestimmtes „Heimatschutz“-Paket vor. Was zuvor als Wahlkampfgetöse galt, wird Realität: Internierungslager für als „Gefährder“ eingestufte Migranten. Massive Überwachungsmaßnahmen erleichtern deren Einrichtung, der Einsatz der Bundeswehr im Innern wird durch die Hintertür ausgeweitet. Der nun noch restriktiveren Einwanderungspolitik soll ein Verweis auf das neue Punktesystem für Hochqualifizierte „nach kanadischem Vorbild“ einen progressiven Anstrich geben. Außenminister Özdemir düpiert derweil den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, als er sich in einer Rede auf Türkisch direkt an die Deutschtürken wendet und sie auffordert, Farbe zu bekennen, also gegen den „Unrechtsstaat“ Erdoğans in Deutschland auf die Straße zu gehen.

Februar 2019: Eine internationale Vergleichsstudie der Bertelsmann-Stiftung und des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung bescheinigt Deutschland, beim Breitbandausbau nun sogar Schlusslicht in Europa zu sein. Der zuständige Bundeswirtschaftsminister Ralph Dommermuth (parteilos) wird zum Gespött: Er solle sich wieder auf sein Dasein als Internetmilliardär und Großspender von FDP und CDU beschränken, schreibt das Handelsblatt. Dommermuth übt den Befreiungsschlag, er stellt ein mit Finanzminister Lindner entwickeltes Modell vor, das die „Erfolgsgeschichte“ öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) von den Autobahnen auf den Breitbandausbau übertragen soll.

Notnagel zu Guttenberg

August 2019: Seit einiger Zeit gab es Gerüchte, nun wird es wahr: VW meldet Insolvenz an. Massenarbeitslosigkeit und Rezession zeichnen sich ab. Oppositionsführerin Andrea Nahles geht die Regierung hart an, die FDP weigert sich jedoch, die Krise mit Kurzarbeit und der Übernahme von VW-Verwaltungsmitarbeitern in den öffentlichen Dienst zu dämpfen. Bei der Landtagswahl in Sachsen wird die AfD stärkste Kraft. Der harte Brexit wird Realität, Dommermuth tritt zurück, da es die Londoner Hochfinanz ins estnische Tallinn und nicht ins hessische Frankfurt zieht. Nachfolger wird Karl-Theodor zu Guttenberg.

Dezember 2019: Nach der Fraktion verlässt die Ströbele-Nachfolgerin und Parteilinke Canan Bayram auch die grüne Partei. In der taz schlägt sie Aufnahmeangebote der Linken aus und kündigt die Gründung einer neuen Bewegung an. Die schwarz-grün-rote Landesregierung in Bayern platzt, nachdem knapp die Hälfte der CSU-Fraktion mit der AfD für die Wiederaufnahme der Todesstrafe in die Landesverfassung gestimmt hat.

März 2020: Özdemir begleitet FDP-Bundesverteidigungsminister Rainer Brüderle auf eine Reise in die Türkei, wird aber im Transitbereich des Istanbuler Flughafens festgesetzt. Von dort aus muss er den Rücktritt von Bundesentwicklungsministerin Simone Peter kommentieren und sagt: „Ich möchte alle vier Partner dieser Koalition eindringlich an ihre staatspolitische Verantwortung erinnern.“

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Geschrieben von

Sebastian Puschner, Leander F. Badura | Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden