Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hätte sich am Dienstag in Brüssel die Zukunft, die da näher kommt, ansehen können. 60.000 Menschen demonstrierten gegen Pläne der belgischen Regierung zur weiteren Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Sie taten es den Menschen in Paris gleich, die ihrerseits seit Wochen gegen das Dekret von Präsident François Hollande zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes Sturm laufen, was gerade inmitten von Tränengas und Benzinengpässen eine neue Eskalationsstufe erreicht hat.
Doch Schäuble hat das wahrscheinlich nicht einmal mitgekriegt, bei der jüngsten Sitzung seines Fanclubs namens Eurogruppe, in dem die Vereinstreue trotz der vom Glauben abgefallenen Griechen immer noch groß ist (hier etwa der slowakische Finanzminister Peter Kažimír). Erneut stand das Land auf der Tagesordnung, für das die „Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ längst ein noch viel größerer Euphemismus ist als in Frankreich oder Belgien: Griechenland. Es wurde wieder eine lange Nacht.
Brüssel, 2 Uhr morgens
Nach zehneinhalb Stunden stand gegen zwei Uhr morgens fest: Die verspätete Zwischenprüfung der Umsetzungsschritte des dritten Kreditprogramms ist nun einigermaßen abgeschlossen. Einigermaßen, das heißt: Nur 7,5 der insgesamt 10,3 Milliarden Euro schweren nächsten Kredit-Tranche des 86 Milliarden umfassenden dritten sogenannten Rettungsprogramms erhält Griechenland in diesem Juni – nach ein paar letzten Überprüfungen. Genug, um seine nächsten Rückzahlungstermine (die exzellente Übersicht des Wall Street Journal hier) einzuhalten und das Thema bis nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni und den spanischen Wahlen am 26. Juni vom Tisch zu haben. Zu wenig, um es gleich bis ans Ende des Jahres loszuwerden, was noch am Montag als Möglichkeit im Raum schwebte.
Doch die exekutierte Sparpolitik – deren jüngste Dosis die Syriza-geführte griechische Regierung am vergangenen Sonntag durch das Parlament brachte – ließ Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem zwar bis dato unbekannte Lobeshymnen auf Alexis Tsipras anstimmen, aber sie reicht nicht. Drei Dinge wünscht sich Schäubles Austeritäts-Bande: Den „Privatisierungschwindel in Griechenland“ beschleunigen, mehr Renteneinsparungen und aktiver gegen die faulen Kredite griechischer Banken vorgehen – was theoretisch heißen könnte, die Verschonung besonders einkommensschwacher, überschuldeter Besitzer kleiner Wohnungen von Zwangsräumung wieder zu kassieren – und bloß nichts mehr dazu sagen, was Griechenlands Premier Alexis Tspiras am Sonntag im Parlament hatte anklingen lassen: Den Aufbau eines neuen „Social Solidarity Fund“.
Mehr als 3,5 Prozent
Wie realistisch solch eine neue Sozialkasse ist, verrät die von Tspiras‘ benannte potentielle Finanzierungsquelle für eine neue Sozialkasse: Haushaltsüberschüsse, die über die 3,5 Prozent Haushaltsüberschuss hinausgehen, welche die Kreditgeber mit Ausnahme des Internationalen Währungsfonds (IWF) ohnehin bis 2018 von Griechenland verlangen. Doch für Schäuble und die Seinen ist schon eine solche Ankündigung zu viel. Zur Erinnerung: Mit zynischem Stolz hatte die EU-Kommission nach der Unterzeichnung des dritten Kreditprogramms im Sommer 2015 versprochen, nun auf die sozialen Folgen der erneuerten Sparpolitik zu achten. Was ist eigentlich aus dem für Griechenland angekündigten System der Grundsicherung geworden, von dem die Kommission in ihrem „Bericht zur sozialen Bewertung“ (hier, Seite 18) schreibt?
Um die sozialen Folgen geht es dem IWF in seiner neuen Analyse der griechischen Schulden nicht. Sondern darum, was bereits 2013 der damalige IWF-Chefökonom Olivier Blanchard eingestand: Die Zahlen passen nicht zusammen. Die Rettungsprogramme retten nicht. Jede und jeder mit intakten Wahrnehmungsorganen konnte das in der Realität seit Jahren sehen. Und jede wie jeder mit einem gewissen ökonomischen Grundverständnis konnte antizipieren, dass eine griechische Ökonomie, die die Kreditgeber geschrumpft und eine Regierung, der sie jeden Weg zu volkswirtschaftlichem Wachstum verbarrikadiert haben, nicht ihre Schulden werden zurückzahlen können. Doch das Ganze funktioniert nicht einmal in den theoretischen Modellen der IWF-Ökonomen!
Am bisher dramatischsten bringt dies die neue Schuldenanalyse zum Ausdruck, der Höhepunkt im schon länger brodelnden gläubigerinternen Zwist, wohlweislich am Montag, unmittelbar vor der Eurogruppe, vom IWF veröffentlicht: Wenn alles so läuft, wie es das dritte Kreditprogramm für Griechenland vorsieht, dann wird dessen Schuldenlast bis 2060 auf 250 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. In einer zuvor geleakten Version waren es noch 300 Prozent, aber was sind für den IWF schon 50 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung? 60 Prozent von jener würden, im Jahr 2060 allein, für den Schuldendienst draufgehen.
Es funktioniert nicht. Ohnehin geht dem IWF alles viel zu langsam und zu unentschlossen: Die Sparbeschlüsse bei der Rente, die Privatisierungen, die Steuererhöhungen. Es schrumpft doch tatsächlich die Basis für Steuereinnahmen. Und dann ist denn Griechinnen und Griechen auch noch der Reformwillen vergangen! Das Eingeständnis des Währungsfonds: Solch tiefgreifende Maßnahmen aus dem neoliberalen Reform-Labor, wie sie nötig wären, „haben nicht die nötige politische und soziale Unterstützung“ in Griechenland. Darum droht der IWF mit dem Rückzug, was Angela Merkel und Schäuble kalt erwischen würde, ist die Beteiligung des IWF an den Griechenland-Maßnahmen doch Grundbedingung für die Zustimmung der Unions-Fraktion im deutschen Bundestag.
Nur sechs Prozent Arbeitslose – 2060
Die IWF-Prognose für die Entwicklung der derzeitig 24,4 Prozent betragenden Arbeitslosenquote sagt voraus: 18 Prozent werden es 2022 sein, 12 Prozent 2040 und sechs Prozent im Jahr 2060. Das sind, bis zu einer gewissen Normalisierung des Arbeitsmarktes, unter der höchst zweifelhaften Voraussetzungen eines jährlichen Wachstums von durchschnittlich 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und für den unwahrscheinlichen Fall der völligen Abwesenheit externer Schocks: 44 Jahre. „Für die heutigen jungen Griechen ohne Job ist das die Dauer ihres gesamtem Erwerbslebens“, schreibt die Wirtschaftsjournalistin Frances Coppola. „Eine ganze Generation wird dem Schrottplatz übergeben worden sein.“
Es dürfte sich daran höchstens graduell etwas ändern, wenn realisiert würde, was der IWF nun fordert: Reduktion der von Griechenland verlangten jährlichen primären Haushaltsüberschüsse von 3,5 auf 1,5 Prozent, Umstrukturierung der Schulden (vor allem von Krediten des IWF hin zu solchen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM), Ausdehnung der Rückzahlungszeiträume, Deckelung der dafür anfallenden Zinssätze bei 1,5 Prozent bis mindestens 2040 und das alles sofort und ohne weitere Bedingungen.
Am Ende der Eurogruppennacht ist davon kaum etwas durchgekommen, dennoch sieht Jeroen Dijsselbloem einen „großen Durchbruch“, das Vertrauen kehre nach der Krise im vergangenen Sommer langsam zurück (alle Pressestatements vor und nach dem Treffen hier). Das heißt: Griechenlands Regierung hat wohl selbst Dijsselbloem und Schäuble mit ihren konsequenten Sparbeschlüssen überrascht. Die 3,5 Prozent Primärüberschuss bleiben. Griechenland bekommt absichtlich von der Gläubigern vorenthaltene Profite, die die Europäische Zentralbank mit griechischen Staatsanleihen gemacht hat und die dem Land ohnehin längst zustehen, ausbezahlt. Es wird ein wenig Umstrukturierung geben. Mit 20 Milliarden Euro, die nach der Banken-Rekapitalisierung übrig geblieben sind, werden ein paar Kredite abgelöst. Alles natürlich unter dem ewigen Vorbehalt, dass die griechische Regierung weiter spurt. Und kaum etwas davon vor 2018.
Extend and Pretend, die Nächste
Nichts Neues auch in Sachen Währungsfond: Der IWF überlegt sich bis zum Jahresende, ob er an Bord bleibt. Vorher wird er zwei weitere Analysen vornehmen: eine neue der griechischen Schuldentragfähigkeit und eine der beschlossenen Maßnahmen zur Schuldenerleichterung. Nimmt der IWF die eigenen Vorgaben ernst, wird er aus dem Griechenland-Programm alsbald aussteigen müssen. Aber Dienstagnacht hat er erst einmal kleinlaut beigegeben und mit am Drehbuch für „Extend and pretend“, „Verlängern und Vortäuschen“, Teil 593, mitgeschrieben (ohne Gewähr auf Vollständigkeit der Zählung). Das kann noch bis zum formalen Ende des dritten Programms Mitte 2018 so weitergehen.
2018 wird eine neue, 2017 gewählte Bundesregierung angetreten sein. Wolfgang Schäuble könnte immer noch Deutschlands Finanzminister sein. Und vor 2018 will Schäuble nichts von wirklich belastbaren Schuldenerleichterungen wissen.
Wahlen dürften nichts an zuvor geschlossenen Abkommen zwischen europäischen Staaten ändern – mit dieser Argumentationslinie war Schäuble stets dem Begehren des damaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis begegnet, die völlig gescheiterten Vereinbarungen zu Griechenlands Schulden neu zu verhandeln. Nun sind es nicht einmal Wahlen, sondern es ist ein Wahlkampf – der deutsche zum Bundestag 2017 –, den Schäuble hernimmt, um eine Vereinbarung aus dem August 2015 zu brechen: Über Schuldenerleichterung zu sprechen, wenn die erste Überprüfung der Umsetzungsschritte des dritten Kreditprogramms abgeschlossen sei. Wobei, genau genommen hat Schäuble keine Vereinbarung gebrochen: Gesprochen haben sie ja.
Ja zum Grexit?
Übrigens: Laut dem griechischen Meinungsforschungsinstitut Public Issue ist der Anteil der Griechen mit positiver Haltung gegenüber dem Euro von 66 Prozent im Oktober 2015 auf 55 Prozent im Mai 2016 gesunken. Der Anteil derer mit negativer Meinung stieg von 32 auf 44 Prozent. Im selben Zeitraum sind aus 18 Prozent, die glauben, innerhalb von ein bis zwei Jahren nach einem Grexit werde die Lage besser, 32 Prozent geworden.
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