Deutschland, die Heimat von VW, ist ein zufriedenes Land. Vor allem, wenn es um die Umwelt geht. Nur noch 19 Prozent der Bürger erachteten sie 2014 als eines der wichtigsten Probleme. So niedrig war dieser Anteil seit einem Jahrzehnt nicht mehr. 86 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die Umwelt an ihrem Wohnort sei in einem sehr guten oder doch recht guten Zustand. Das hat das Umweltbundesamt (UBA) in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden.
Wie wird wohl die nächste Auflage der Befragung ausfallen? Die Verunsicherung ist jedenfalls groß, seitdem alle wissen, dass VW die Luft sehr viel stärker verpestet, als es eigentlich erlaubt ist. Das hat aber nicht das UBA aufgedeckt, sondern sein US-amerikanisches Pendant, die Environmental Protection Agency (EPA) mithilfe einer NGO. Und es ist kein Zufall, dass die EPA den Skandal öffentlich machte. Obwohl im UBA viele umweltbewegte Forscher ihren Arbeitsplatz gefunden haben, ist das Amt in seiner mehr als 40-jährigen Geschichte immer nur ein wissenschaftliches Beratergremium geblieben. Eine leise Gegenstimme zum lauten Konzert von Industrie und Politik, Titelmelodie: Gut ist, was Wachstum schafft. Die EPA darf Unternehmen eigenständig mit Sanktionen belegen. Das UBA darf Studien und Umfragen vorlegen.
Dabei wären Sanktionen dringend geboten. Nicht nur für Diesel-Hersteller, die die Luft verschmutzen. Auch für Großbauern, die mit ihrer Massentierhaltung die Trinkwasserversorgung gefährden. Für Chemiefirmen, die unvollständige Prüfunterlagen für ihre Stoffe vorlegen. Und für Konzerne wie Monsanto, deren Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat in dringendem Verdacht steht, die Krebsgefahr zu erhöhen.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Und hinter all den Fällen steht dieselbe Struktur: ein oft personell eng geflochtenes Netz aus wirtschaftlichen Interessen und politischer Macht. Den VW-Skandal als misslichen Sonderfall abzutun, bei dem nur einzelne Manager Mist gebaut hätten, greift deshalb zu kurz. VW ist vielmehr das exponierteste Beispiel für die Verflechtung von Großkonzernen und Politik. Das Land Niedersachsen hält ein Fünftel der Unternehmensanteile, kein niedersächsischer Politiker und niemand an der Spitze des deutschen Staates kommt ohne die Nähe zu VW aus. Mit Gerhard Schröder, Christian Wulff, Sigmar Gabriel und Angela Merkel ist nur die jüngere Vergangenheit in Ausschnitten benannt.
Merkels ehemaliger Regierungssprecher Thomas Steg ist heute VW-Cheflobbyist. Der zurückgetretene VW-Vorstandschef Martin Winterkorn lag in der vergangenen Legislaturperiode gleichauf mit dem Chef des Verbandes der Automobilindustrie, Matthias Wissmann, wenn es um die Zahl der Besuche im Kanzleramt ging. Häufiger als er und Winterkorn war nur Daimler-Boss Dieter Zetsche bei Merkel zu Gast. Aus dem Kanzleramt hat Zetsche auch seinen heutigen Cheflobbyisten geholt, den Ex-Staatsminister Eckart von Klaeden (CDU). Und Sigmar Gabriel war während seiner Zeit als SPD-Fraktionschef in Niedersachsen als Berater für VW tätig.
Verharren im alten Muster
Der Grund für die Kumpanei zwischen Industrie und Wirtschaft ist zunächst so offensichtlich wie nachvollziehbar: Große Industriekonzerne schaffen Arbeitsplätze und Wohlstand. 274.000 der insgesamt fast 600.000 Beschäftigen bei VW arbeiten in Deutschland. Als Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) in einem Interview nach dem VW-Skandal gefragt wurde, da sprach sie nicht sogleich von Stickoxiden und Luftqualität. Sondern vom Schaden für den Ruf der deutschen Wirtschaft.
Eine innige Beziehung
Die Entwicklung von VW ist schon immer eng mit der deutschen Geschichte verknüpft gewesen. Von Hitler ins Leben gerufen, nach dem Krieg von der britischen Militärverwaltung weitergeführt, dann an das Land Niedersachsen übergeben. Auch als der Bundestag 1960 entschied, das Unternehmen größtenteils zu privatisieren, wurde die enge Verbindung nicht gekappt. Kein Spitzenpolitiker kam ohne Nähe zum VW-Konzern aus
Hendricks sollte aber lieber nach dem Zukunftspozential der deutschen Wirtschaft fragen. Denn um das steht es schlecht. Die Folgen einer bloß auf quantitatives Wachstum ausgerichteten Ökonomie ohne Rücksicht auf die Grenzen des Planeten werden immer offensichtlicher. Erderwärmung, Luftverschmutzung, ausgelaugte Böden, übersäuertes Wasser – auf all diese Probleme lässt sich nicht nur mit Protest, sondern auch mit neuen Geschäftsmodellen und Technologien antworten. Doch Deutschland verharrt im alten Muster, in einer Art Korporatismus zur Steigerung von Produktionszahlen und Exportüberschüssen. Mehr, mehr, mehr. Um 20 Prozent hat die deutsche Autoindustrie ihre Exporte allein in die USA seit 2004 gesteigert. Auf dem Weg in ein Zeitalter moderner Mobilität wird ihr das kaum nützen.
Wir wissen jetzt: VW hat elf Millionen Autos weltweit, drei Millionen allein in Deutschland, mit einer Betrugssoftware ausgerüstet, um Abgastests systematisch zu manipulieren. Das ist ein Betrug an Kunden und Öffentlichkeit, nicht aber an der Bundesregierung. Noch vor vier Monaten intervenierte Deutschland zusammen mit Großbritannien und Frankreich bei der EU-Kommission, um eine Verschärfung der Vorschriften für Abgastests zu verhindern. Dass diese bisher unter Selbstkontrolle der Autoindustrie in Labors und nicht auf der Straße stattfinden, hatte den Einsatz der VW-Software überhaupt erst ermöglicht.
Künftig sollen Straßentests in der EU eine größere Rolle spielen, „Deutschland unterstützt die EU-Kommission dabei, das System weiterzuentwickeln“, steht auf der Website des Bundesverkehrsministeriums. In Brüssel scheint von dieser Unterstützung nicht viel angekommen sein: Es läuft ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung an, weil sie für saubere Luft nicht das tut, was sie tun müsste. Sie behindere und verzögere die Einführung von Abgastests auf der Straße, so steht es in einem Schreiben der Kommission von Mitte Juni. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hat das nur für den internen Dienstgebrauch der Regierung klassifizierte Schreiben ins Netz gestellt und wegen der anhaltenden Überschreitung von Stickstoffdioxid-Grenzwerten die Sperrung städtischer Gebiete für Dieselfahrzeuge gefordert. Und zwar Anfang Juli. Die Deutsche Umwelthilfe prangerte sogar seit September 2007 Fehlangaben bei den Abgaswerten an und mahnte, diese zu korrigieren.
Wieso es legitim ist, dahinter nicht Schlamperei und Verfehlungen Einzelner zu vermuten, sondern ein strukturelles Problem zu erkennen, zeigt ein weiteres Beispiel abseits der Autowelt: die bedenkliche Entwicklung der Wasserqualität in Deutschland. Die industrielle Landwirtschaft übersät die Felder landauf, landab mit zu viel stickstoffhaltigem Dünger. Nach und nach gelangen dessen Bestandteile ins Grundwasser. Aus dem gewinnt Deutschland drei Viertel seines Trinkwassers. Doch damit tun sich die Wasserversorger immer schwerer. Denn nirgendwo sonst in der EU ist die Belastung mit Nitrat so hoch wie in Deutschland. Wasserwerke müssen belastetes Wasser mit unbelastetem mischen, doch von Letzterem gibt es immer weniger. Aufwendige technische Reinigungsverfahren schlagen sich deshalb in höheren Wasserpreisen nieder. Und wegen der Nitrat-Belastung läuft auch ein EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung. Seit zwei Jahren.
Es gibt eine weitere Parallele zur Luftverschmutzung – das lasche Kontrollverfahren zur Einhaltung der Grenzwerte. Was bei den Abgasen der Labortest ist, sind in der Landwirtschaft Flächen- und Schlagbilanzen. „Oftmals keine aussagekräftigen Ergebnisse“ lieferten diese für die Stickstoffbilanzen der Böden, urteilen sogar Berater des Bundeslandwirtschaftsministeriums. Und auch hier gibt es eine bessere Mess-Alternative: die Hoftorbilanz. Mit ihr müsste jeder Bauer seine tatsächliche Güllestatistik exakt erheben. Der Staat müsste Bauern ein EDV-System zur Verfügung stellen, damit sie die Umstellung nicht zu sehr mit Verwaltungsaufwand belastet. Und es bräuchte strengere Grenzwerte, effektivere Kontrollen, empfindliche Strafen.
Doch die Großbauern wehren sich vehement. Die Hoftorbilanz werde zu mehr Bürokratie führen und sei „nicht geeignet, die Effizienz der Düngung zu verbessern“, schreibt der Deutsche Bauernverband (DBV). Was die deutsche Autoindustrie in der Verkehrspolitik ist, stellt der DBV in der Landwirtschaftspolitik dar: die mit Abstand mächtigste Lobbygruppe. Ihr Präsident Joachim Rukwied kommt aus der CDU, Vize Udo Folgart sitzt für die SPD in Brandenburgs Landtag. Und die CSU begreift sich als Schutzmacht des Verbandes.
Dass die Hoftorbilanz in absehbarer Zeit kommt, halten Beobachter für unwahrscheinlich. Die Reform, nicht zuletzt durch den Druck aus Brüssel seit Jahren überfällig, wurde gerade wieder verschoben. Eigentlich sollte sie Ende 2015 in Kraft treten. Doch jetzt ist schon allein die Befassung des Bundesrats auf das erste Quartal 2016 vertagt. Viel Zeit für Besuche der Bauernlobby in Bundes- und Landesministerien.
Auch die Argumentation ist bei der Agrarindustrie die gleiche wie bei den Autokonzernen: Es wird auf die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt verwiesen. „Wirtschaftliches Wachstum, Wertschöpfung und Arbeitsplätze hängen auch in der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft zu wesentlichen Teilen von Exporten ab“, schreibt das Bundeslandwirtschaftsministerium. Das heißt: mehr Erträge, Massentierhaltung, Überdüngung. Doch was hilft ein kräftiger Agrarexportüberschuss, wenn das Wasser nicht mehr trinkbar ist?
„Dienstleister der Industrie“
Und noch ein drittes Beispiel belegt, wie die Interessen von Großkonzernen Vorrang vor jenen der Bürger haben. Es geht um das laufende EU-Wiederzulassungsverfahren für das Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat dabei den Hut auf – und steckt in erheblicher Erklärungsnot, seit Forscher der Weltgesundheitsorganisation WHO Glyphosat kürzlich als „wahrscheinlich krebserregend“ einstuften. In dieser Woche legten der BUND und der Toxikologe Peter Clausing Studien vor, die zeigen, wie das BfR Studien, die eine Krebsgefahr nahelegen, systematisch unbeachtet gelassen hat, um zu empfehlen, Glyphosat weiter zuzulassen. Für den BUND ist das nicht verwunderlich, begreife sich das Amt doch als „Dienstleister der Industrie“. Der zuständige Abteilungsleiter arbeite an Publikationen eines Forschungsinstituts mit, das maßgeblich von Konzernen wie Monsanto finanziert werde.
Der VW-Skandal ist ohne Zweifel ein einschneidendes Ereignis in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Er könnte nicht nur für den Konzern ein Neuanfang werden – er könnte auch der Moment sein, in dem das Verhältnis von Wirtschaft, Politik und Behörden grundlegend überdacht wird. Denn die Bürger haben ein Recht darauf, dass Behörden die demokratisch festgelegten Regeln auch durchsetzen. Und dass Lebensqualität nicht kurzfristigem Profit geopfert wird. Dazu bräuchte es etwa ein Umweltbundesamt, das nicht nur auf Missstände hinweist, sondern sie sanktioniert. Ein Korrektiv für Deutschlands alten Konsens, wonach nur Produktion und Export wachsen müssen, um in der Welt zu besteht. Diese Welt verändert sich. Ein neues Umweltbundesamt böte Chancen, mit dieser Veränderung Schritt zu halten.
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