Eigentlich müsste Andreas Stadler gerade schreckliche Angst haben. Um seinen Laden, eine Bar in Berlin, die seit dem 14. März geschlossen bleiben muss. Um seine Familie, die von den Einnahmen der Bar lebt, inklusive vierjähriger Tochter. Überhaupt, um die Zukunft. Doch Stadler hat keine Angst. Er ist so entspannt wie selten in all den vergangenen Jahren. In denen er immer von Monat zu Monat wirtschaften, die Miete für die Bar zusammenkratzen und die Abzahlung der Kredite für den Umzug in einen größeren Laden umschichten musste. „Miete, Strom, Kredite, Versicherungen, Löhne minus Kurzarbeitszuschuss – alles bezahlt, bis Juni“, sagt Stadler. „Respekt vor diesem Staat.“
Kurz war die Angst um die Zukunft schon da: eine Woche nach der Schließung aller Bars in Berlin Mitte März. An einem Freitag pfändete das Finanzamt Stadlers Konto, er war mit der Umsatzsteuervorauszahlung in Verzug. Ein Anruf beim Amt am Montag darauf, und die Pfändung war aufgehoben. 48 Stunden und eine sechsstellige Wartenummer später hatte er 14.000 Euro mehr auf dem Konto – die beantragte Nothilfe, 9.000 Euro vom Bund, 5.000 vom Land Berlin. „Ich musste nichts dafür tun, außer meine Steuer- und meine Personalausweisnummer anzugeben“, sagt er. „Dass der Staat das so schnell und unkompliziert hinbekommen hat, ist beeindruckend.“
In Windeseile hat dieser Staat in den vergangenen Wochen vielen Bürgern Tausende von Euro überwiesen, ohne zunächst groß nachzufragen und zu prüfen. Gerade für Solo-Selbstständige wie Stadler ist das ein völlig neues Gefühl – die Existenz ist erst einmal sicher.
Maschmeyers Prophezeiung
Was damit durchs Land weht, ist ein Hauch von bedingungslosem Grundeinkommen, kurz: BGE. Wohl nie zuvor kam die Idee, dass jede Bürgerin und jeder Bürger, ohne etwas dafür zu tun, jeden Monat einen existenzsichernden Geldbetrag zur Verfügung hat, der Realität näher als heute. Kein Wunder, dass diese Idee mit Unterstützern und Gegnern in allen politischen Lagern und höchst unterschiedlichen Konzepten für Umsetzung und Finanzierung gerade so laut und ernsthaft debattiert wird wie lange nicht, vielleicht noch nie. „Löst das ,Geld für alle‘ jetzt unser Wirtschaftsproblem?“, fragt die Bild. Der Finanzmogul Carsten Maschmeyer prophezeit bei focus.de für die Zeit nach der Krise „eine neue Zeitrechnung, in der wir nicht nur eine Art De-Globalisierung erleben werden, sondern auch die Einführung des Grundeinkommens“.
Fast eine halbe Million Unterschriften zählt die Petition „Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen durch die Corona-Krise“ der selbstständigen Modedesignerin Tonia Merz bei change.org, sie will mit einem auf ein halbes Jahr begrenzten bedingungslosen Grundeinkommen zwischen 800 und 1.200 Euro monatlich pro Person „den sozialen Absturz Tausender verhindern und gleichzeitig die Kaufkraft im Land erhalten“. Vom Bundestag fordert eine andere Petition auf dessen Internetseite, „kurzfristig und zeitlich begrenzt, aber so lange wie notwendig“ ein Grundeinkommen zu realisieren, es müsse „existenzsichernd sein und die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“, 1.000 Euro pro Monat seien vorstellbar. Rund 130.000 haben bisher unterschrieben.
Spanien ist da, glaubt man hiesigen Schlagzeilen aus den ersten April-Wochen, schon weiter: Die Regierung wolle ein Grundeinkommen einführen – und zwar „für immer“ (siehe Kasten). Was von den Regierungsplänen auch zu halten ist: In der Corona-Krise hat die neue Debatte um ein Grundeinkommen besonders früh in Ländern Fahrt aufgenommen, in denen der Sozialstaat schwach ausgeprägt ist. Länder, in denen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Kurzarbeitsgeld keine Selbstverständlichkeit sind. Weshalb eines der derzeit einleuchtendsten Argumente für ein Grundeinkommen lautet, dass es den Menschen erlaube, nicht zur Arbeit zu gehen, wenn sie sich krank fühlen oder Ansteckung fürchten. So schrieb es etwa der britische Ökonom Guy Standing am 13. März in Spaniens größter Tageszeitung El País.
Was Spanien plant
Grundsicherung Schon im Dezember 2019 hatten die spanischen Sozialdemokraten der PSOE und die linkspopulistische Partei Podemos in ihrem Koalitionsabkommen auf vier Zeilen eine Art Grundeinkommen vereinbart. Angesichts der Corona-Pandemie forderte Podemos nun, das Vorhaben so schnell wie möglich einzuführen. Allerdings hieß es, man lehne sich an das italienische Vorbild an; dort wurde von der 5-Sterne-Bewegung 2019 ein „Grundeinkommen“ umgesetzt, welches in einem Arbeitslosengeld mit Auflagen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt besteht, im Wesentlichen also Hartz IV. Am 10. April kündigte Podemos an, die Regierung werde zunächst eine temporäre Grundsicherung für Menschen ohne Einkommen für einige Monate beschließen, weil die Harmonisierung mit anderen Sozialleistungen, etwa der autonomen Regionen, mehr Zeit erfordere.
Standing ist einer der weltweit lautstarksten BGE-Befürworter, Mitgründer des Basic Income Earth Network. In seiner Arbeit hat er sich mit Ungleichheit und der steigenden Zahl von Menschen beschäftigt, die in prekären Verhältnissen leben. Jetzt steht ihm vor Augen, was die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen und der ökonomische Schock für dieses gewachsene globale Prekariat bedeuten werden: „mehr Obdachlosigkeit, mehr Pleiten, steigende Morbidität und Mortalität“. Das sei aber nicht Folge eines Virus, sondern strukturelles Ergebnis eines höchst fragilen globalen Wirtschaftssystems und eines Rentier-Kapitalismus, der den Besitzern von materiellem, finanziellem und geistigem Eigentum immer mehr zufließen und die große Mehrheit in ständiger struktureller Unsicherheit leben lasse. Warum ihnen also nicht diese Unsicherheit nehmen, warum die Europäische Zentralbank Billionen Euro nicht an die Finanzmärkte, sondern an die Menschen ausschütten lassen?, fragt Guy Standing.
Nina Körner bekommt schon heute ein BGE ausgeschüttet, nicht von der EZB, sondern vom Verein „Mein Grundeinkommen“. Körner gehört zu den bisher mehr als 450 Gewinnern von dessen Ziehungen. „Mein Grundeinkommen“ sammelt Spenden und verlost jeden Monat mehrere Grundeinkommen von 12.000 Euro. „Wir wünschen dir viel Freude damit“, steht seit Juli 2019 jeden Monat auf Körners Kontoauszug neben dem 1.000-Euro-Plus. „Das Grundeinkommen enthebt dich ganz krass dieser Existenzangst“, sagt die 46-Jährige, „und dieser Notwendigkeit, etwas entgegen deinen Überzeugungen zu tun“. Körner tut schon länger nichts mehr entgegen ihren Überzeugungen. Ein Dreivierteljahr vor dem Grundeinkommensgewinn hatte sie ihren Job als stellvertretende Filialleiterin eines Möbelgeschäfts gekündigt, so wie sie schon zuvor, mit Mitte 30, ihre Tätigkeit im Visual Merchandising aufgegeben hatte. „Abverkauffördernde Warenpräsentationskonzepte“ für zum Beispiel Schaufensterentwürfe, „eine der sinnfreisten Tätigkeiten überhaupt“, sagt Körner heute, da sie sich mit einer Freundin günstig eine kleine Praxis in bester Braunschweiger Altstadtlage gemietet hat und als Yoga-Lehrerin arbeitet. „Ich verdiene damit nicht viel Geld, zumal ich vor allem mit Menschen arbeite, die sich nicht in große Gruppen trauen und eigentlich kein Geld für Yoga haben.“ Etwa 500 Euro nimmt sie damit im Monat ein, 350 kostet sie das Studio, Ersparnisse von 9.000 Euro hatten ihr dieses Leben bis vergangenen Sommer ermöglicht, dann war das Konto leer. Und dann gewann sie bei der Verlosung.
Butterwegges Kritik
Körners Praxis ist derzeit geschlossen, sie malt Yoga-Übungen mit Strichmännchen, schickt sie an ihre Klienten und gibt Einzelstunden auf der Wiese, „natürlich unter Wahrung der Abstandspflicht“. „Ohne das Grundeinkommen wäre ich jetzt in ziemlicher Panik“, sagt sie. Jetzt habe sie noch bis Ende Juni, um ein rationales Modell für ihr Yoga-Studio vorzubereiten, eines, das nicht wie bisher „ökonomischem Selbstmord“ gleichkomme, aber sich zugleich nicht völlig dem Gebot der Profitabilität verschreibe. Es ist die Hoffnung auf einen Mittelweg, wie sie ihn auch für das große Ganze hat: „Ich bin überzeugt, dass das Grundeinkommen nicht nur ein Krisen-Heilmittel ist, sondern auch der richtige Weg zu einer vielfältigeren, solidarischeren und gerechteren Gesellschaft.“
Wenn man Christoph Butterwegge mit solchen Hoffnungen konfrontiert, kann man selbst am Telefon förmlich spüren, wie er die Stirn in Falten zieht. Der Politikwissenschaftler Butterwegge ist einer der besten Kenner des deutschen Sozialstaates und einer der schärfsten Kritiker der Sozialpolitik der Bundesregierung, aber noch schärfer war schon immer seine Kritik am Grundeinkommen. Das hat sich mit der Corona-Krise nicht geändert. „Gerade in einer Krisensituation wie dieser Pandemie darf man nicht alle Menschen über einen Kamm scheren“, sagt er. „Mehr denn je kommt es darauf an, ihre spezielle Lebens-, Arbeits- und Einkommenssituation zu berücksichtigen.“ Der Sozialversicherungsstaat mit seinem Bedarfdeckungsprinzip sei ihm bei aller Kaltherzigkeit, Engstirnigkeit und bürokratischen Verkrustung in der Umsetzung immer noch lieber als ein Staat, der mit der Auszahlung einer Geldpauschale von 1.000 Euro pro Monat an jeden seine Schuldigkeit getan zu haben glaubt. „Das Grundeinkommen tastet die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen und Machtverhältnisse nicht an“, sagt er. Schlüssiger erscheinen ihm deshalb die Konzepte der neoliberalen Ökonomen für ein Grundeinkommen. „Die setzen darauf, dass es dann keinen Kündigungsschutz, keine Tarifverträge, keine Gewerkschaften und keinen Mindestlohn mehr gibt, weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit Grundeinkommen ihrer Meinung nach auf Augenhöhe verhandeln könnten.“
Wenn dies das neoliberale Modell ist, dann ist sein Gegenteil die „emanzipatorische“ Version der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in der Linkspartei. Deren Konzept ist nicht nur eines für ein Grundeinkommen von 1.180 Euro für jeden ab 16, sondern sieht dieses als „Teil einer transformatorischen Gesamtstrategie“ für die Gesellschaft: mit 13 Euro Mindestlohn, solidarischen Bürgerversicherungen für Rente, Gesundheit und Erwerbslosigkeit, sozial-ökologischem Infrastruktur-Investitionsprogramm, mit vergesellschafteten Immobilienkonzernen. Das ausgefeilte Finanzierungsmodell läuft auf eine Umverteilung hoher Einkommen und Vermögen hinaus.
Christoph Butterwegge fragt sich da: „Wenn wir schon derzeit einen höheren Mindestlohn nicht durchsetzen können, warum sollte das denn gelingen, wenn man noch die Forderung nach einem BGE draufsattelt und im selben Atemzug das ganze Sozialsystem umkrempeln will?“
In der Linken selbst dürfte es zwar mehr Befürworter des Grundeinkommens geben als bei Grünen oder SPD, es ist aber dennoch höchst umstritten. Trotzdem wird die Partei wohl in absehbarer Zeit über die Forderung abstimmen, per Mitgliederentscheid, etwa Ende 2021 oder 2022.
In Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein sammelt derweil der Verein „Expedition Grundeinkommen“ Unterschriften, um mit Volksentscheiden BGE-Modellversuche zu erzwingen. Andreas Stadler träumt von der Wiedereröffnung seiner Bar am 21. Mai, dem Feiertag. Nina Körner arbeitet an einer Krankenkassenzulassung, damit sich ihre Kunden so Yoga leisten können. Und Christoph Butterwegge fordert in Zeiten von Hamsterkäufern und geschlossenen Tafeln einen Ernährungszuschlag von 100 Euro für alle Hartz-IV-Bezieher, alle Empfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie alle Bezieherinnen von Asylbewerberleistungen. Außerdem einen „Corona-Soli“, der durch Umwidmung und volle Aufrechterhaltung des Solidaritätszuschlages die Besserverdienenden, Kapitaleigentümer und Konzerne zur Krisenbewältigung heranzieht.
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