Eine ungute deutsche Sehnsucht

Infektionsschutzgesetz Die Bundes-Notbremse verspottet den Föderalismus – und bringt nichts
Ausgabe 15/2021
Die gegenwärtige gähnende Leere in den bundesdeutschen Gassen hat wohl zuletzt kein Regierungsmitglied zu Gesicht bekommen
Die gegenwärtige gähnende Leere in den bundesdeutschen Gassen hat wohl zuletzt kein Regierungsmitglied zu Gesicht bekommen

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Nachts will die Bundesregierung nun also das Virus besiegen, mit Ausgangssperren zwischen 21 und 5 Uhr in den vermeintlich aerosolgeschwängerten Gassen der Republik. Deren gegenwärtige gähnende Leere hat wohl zuletzt kein Regierungsmitglied zu Gesicht bekommen. Angela Merkel und ihr Kabinett hätten ja die Wissenschaft konsultieren können, bevor sie das neue Infektionsschutzgesetz auf den Weg bringen: Corona sei ein „Innenraum-Problem“, sagt der Physiker Gerhard Scheuch; und er bringt da ja keine neue Erkenntnis unter die Leute. „Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ,Clusterinfektionen‘, wie das in Innenräumen zu beobachten ist“, schreibt die Gesellschaft für Aerosolforschung an die Regierenden. Doch nicht allein deshalb markiert dieser Gesetzesentwurf einen weiteren Tiefpunkt der Pandemiepolitik Angela Merkels.

Ausgangsbeschränkungen sind längst von Gerichten verhandelt worden, das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht etwa beurteilte sie als „ersichtlich nicht erforderlich“. Die Lektüre des Beschlusses empfiehlt sich, er ist eine Ohrfeige für tragende Elemente der Politik, mit der Bund und einige Länder dieser Krise begegnen: „Der Erlass einschneidender Maßnahmen“ nur auf den „Verdacht“ hin, die Bevölkerung sei undiszipliniert, „lässt sich in diesem fortgeschrittenen Stadium der Pandemie jedenfalls nicht mehr rechtfertigen“. Kommt das Infektionsschutzgesetz in dieser Form – vor dem Bundesverfassungsgericht wird es kaum bestehen.

Vor einem anderen Gericht lässt sich ja nicht dagegen klagen, es geht jetzt um eine „Bundes-Notbremse“. Ob die Richter in Karlsruhe Berlin wohl die alleinige Ausrichtung am Inzidenzwert durchgehen ließen? Zwei Experten warnen: „Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die ,7-Tages-Inzidenz‘ als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren“, so Detlev Krüger, vor Christian Drosten 27 Jahre Charité-Chefvirologe, und Klaus Stöhr, der ehemalige SARS-Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation.

Ihre Alternative ist dieser Regierung wohl zu differenziert: „die tägliche Anzahl der COVID-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnortes, Alter und Geschlecht mit Berücksichtigung diesbezüglicher zeitlicher Trends“. Denn beim Infektionsgeschehen wie bei der Lage auf den Intensivstationen gibt es große regionale Unterschiede.

Nur eines ist nahezu überall gleich: die katastrophale Personalsituation in den Kliniken. Doch ebendiesem Grund für die drohende Überlastung sieht die Bundesregierung tatenlos zu. Was für ein Hohn, wenn die Kanzlerin mahnt, man dürfe Ärzte und Pfleger bei ihrer Herkulesaufgabe nicht alleine lassen!

Während Kindern eine Testpflicht auferlegt wird, Arbeitgebern aber nur eine „Testangebotspflicht“, während es dort weiter hapert, wo der Bund hätte glänzen können, bei der Impfstoffversorgung, geht Merkel mit dem Vorschlaghammer auf Aerosoljagd: Lockdown ab Inzidenz 100, der Bund befiehlt.

Sinnentleert bedient dies niedere anti-föderale Instinkte und suggeriert Erlösung in jener deutschen Sehnsucht nach nationaler Einheitlichkeit, die einige schon vor dem Virus die historische Lehre Föderalismus gern als „Flickenteppich“ verspotten ließ. Derweil mussten strangulierte Kommunen etwa an der Gesundheitsversorgung sparen.

Gregor Gysi hat recht: „Wir müssen das Grundgesetz schützen.“ Dem Bundestag bleiben hierfür nur wenige Tage.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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