Zukunft Frankreich erklärt den Stabilitätspakt für passé, Portugal wählt links, Italien schert sich nicht um Kritik aus Brüssel. Ist das eiserne Regiment der Austerität vorüber?
Marine Le Pen und Joseph Stiglitz gemeinsam auf einem Foto – die Chance ließ sich der Pressechef des Front National (FN) Anfang September nicht entgehen: Er schickte das Bild seiner Parteichefin mit dem Nobelpreis-gekrönten US-Ökonomen in die sozialen Netzwerke. Beide waren sich zufällig auf dem Flur eines Radiosenders begegnet, in dessen Programm sie unabhängig voneinander zu Gast waren.
Le Pen, deren Partei spätestens nach den Terroranschlägen von Paris ein Erfolg bei den französischen Regionalwahlen im Dezember winkt, beruft sich schon lange auf Stiglitz und Paul Krugman, eigentlich die Ikonen linker Kritik der Sparpolitik. Laut applaudierte sie, als Syriza im Januar die griechischen Parlamentswahlen gewann, und lobte Ministerpräsident A
8;sident Alexis Tsipras, als dieser im Juli das Referendum über die Fortsetzung der Austerität anberaumte.Tsipras distanzierte sich deutlich von Le Pen. Und auch Stiglitz wie Krugman dürften nicht erfreut sein über den Zuspruch der französischen Euro-Gegnerin. Doch deren Querfront-Avancen machen das Dilemma deutlich, in dem Europa im Jahr 2015 tiefer denn je steckt: Auf den Euro nämlich wollen weder die verzichten, die wie der deutsche Finanzminister das Zurückdrängen des Staates und dessen Ausgaben als Weg aus der Krise preisen. Noch die, die wie Tsipras gegen diesen Kurs ankämpfen, weil er sich als ökonomisch erfolglos erwiesen hat und soziale Ungleichheit und Armut in einem Ausmaß stiftet, das es in Europa seit den 1920er Jahren nicht gegeben hat. Die von Wolfgang Schäuble orchestrierte Nötigung Griechenlands zum dritten Sparpaket am 13. Juli konnte nur gelingen, weil er wusste, dass der Ausstieg aus dem Euro für Tsipras keine Option sein kann.Petition in FinnlandEine Währungsreform wird stets nur dann gelingen, wenn es für diese Art von Neuanfang ausreichendes Vertrauen in der Bevölkerung gibt – siehe Deutschland 1948. Nicht in Ansätzen ist dieses Vertrauen unter den Griechen vorhanden. Das sang- und klanglose Scheitern der von Panagiotis Lafazanis angeführten Partei Volkseinheit bei den Neuwahlen im September zeigt das deutlich. Mit ihrem Plädoyer für einen Neuanfang ohne Euro brachte sie es auf 2,9 Prozent, was nicht einmal für den Einzug ins Parlament genügte.Nicht nur Griechenland will den Euro behalten. 17.500 Bürger der Eurozone hat die EU-Kommission im Oktober befragt. 61 Prozent gaben an, der Euro sei gut für ihr Land. Das mag nicht nach überwältigender Mehrheit klingen; aber es ist der höchste Zustimmungswert seit Start der Befragung 2002, eine Steigerung um vier Prozent im Vergleich zu 2014. Die meisten Fürsprecher gibt es in Luxemburg, Irland, Deutschland, Estland, der Slowakei, Österreich, Griechenland, Spanien und Finnland.Das skandinavische Land, seit drei Jahren in der Rezession, widerspricht dabei dem demoskopischen Trend: In Finnland ist die Zustimmung von 69 auf 64 Prozent gefallen. 2016 muss sich das Parlament mit einer Petition beschäftigen, die gerade das nötige Quorum von 50.000 Unterschriften erreicht hat: Ihr Initiator Paavo Väyrynen fordert eine Debatte über den Euro-Ausstieg. Väyrynen ist ein Veteran finnischer Politik, er war Außenminister, sitzt im Europaparlament und gehört der liberalen Zentrumspartei an, die seit Mai den Ministerpräsidenten stellt. Gegen Euro, EU- wie NATO-Mitgliedschaft hat der 69-jährige Väyrynen zeit seines politischen Lebens gekämpft. Er hat viele Niederlagen erlitten, etwa bei drei Kandidaturen für das Amt des Staatspräsidenten. Eine weitere wird aller Voraussicht nach im nächsten Jahr dazukommen.Denn das eint liberale, konservative und linke Freunde einer Rückkehr zu nationalen Währungen in Europa: Sie mögen hier und da an Zustimmung gewinnen, doch in den meisten Staaten ist eine politische Mehrheit für sie bisher in weiter Ferne. Deshalb hat Tsipras folgerichtig die Abspaltung der Volkseinheit von Syriza in Kauf genommen. Deshalb wird die finnische Petition eben das bleiben: eine Petition.Finnland war und ist einer der härtesten Gegenspieler der griechischen Regierung bei deren Kampf gegen die Austerität. Doch die Volkswirtschaften beider Länder laborieren an ähnlichen Problemen: Sie darben unter der exerzierten Sparpolitik, die für eine Erholung so nötige Investitionen verhindert, und unter den Amputationen des Sozialstaates, die Ungleichheit und Armut wachsen lassen. Sogar der Internationale Währungsfonds empfiehlt der finnischen Regierung im jüngsten Länderbericht, die geplanten Einsparungen bei Programmen gegen Arbeitslosigkeit dringend zu überdenken – um sie im selben Atemzug in ihren Anstrengungen zur Schwächung der Tarifverhandlungssysteme zu bestärken.Noch etwas eint Finnen und Griechen: Ihre Bevölkerungen altern rapide. Diese Entwicklung teilen sie mit Deutschland.Placeholder image-1Placeholder infobox-1Sieben Millionen mehr Einwanderer als Auswanderer bräuchte Deutschland bis 2035, um die Bevölkerungszahl auf dem Stand von 2014 zu halten, hat soeben das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vorgerechnet. „Erhebliche Anstrengungen“ fordert das IW besonders für Qualifizierung, Ausbildung und eine Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge. Anstrengungen, das heißt: Investitionen.Wenngleich es sich noch nicht in Finanzminister Schäubles Haushaltsplänen niederschlägt: Die Flüchtlingssituation bestärkt hierzulande einen Wandel im Nachdenken über Wirtschaft. Dass die ein Kreislauf ist und öffentliche Investitionen von heute die Steuer- und Abgabeneinnahmen von morgen sein können, eine solche Banalität war wegen der deutschen Fetischisierung der schwäbischen Hausfrau eine kaum mehr anzutreffende Erkenntnis. Inzwischen ist es alles andere als eine Außenseitermeinung, wenn der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, und sein Kollege Simon Junker Berechnungen anstellen und schlussfolgern: Die Gesellschaft solle die Kosten der Flüchtlingsintegration als Investition in die Zukunft begreifen. Selbst im pessimistischsten Szenario erhöhe sich langfristig das Pro-Kopf-Einkommen der bereits in Deutschland Lebenden nach etwas mehr als zehn Jahren. „Die zentrale Frage ist nicht, ob die Flüchtlinge langfristig einen wirtschaftlichen Nutzen für Deutschland bedeuten, sondern lediglich, wie schnell die Leistungen der Flüchtlinge die zusätzlichen Ausgaben übertreffen“, schreiben die DIW-Ökonomen.Placeholder link-1Für Europa ist dieser Diskurs ein gutes Zeichen. Denn das Regiment des Sich-aus-der-Krise-Sparens ist längst nicht mehr so eisern und mächtig, wie es manche linke Kritiker empfinden. In Spanien haben die Konservativen nach den Erfolgen von Podemos aus Angst vor ihrer Abwahl einen stillen Kurswechsel vollzogen. In Portugal hat plötzlich ein Linksbündnis die Mehrheit. In Italien ficht es Ministerpräsident Matteo Renzi kaum an, dass die EU-Kommission seinen Haushaltsentwurf für 2016 aufgrund der „Gefahr der Nichterfüllung der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts“ kritisiert. Jenen Pakt, den Katechismus der europäischen Austerität, hat Frankreichs Präsident François Hollande im Zeichen des Terrors ohnehin für praktisch nicht mehr gültig erklärt. Es ist eine zynische Pointe, dass Terroristen eine vielleicht entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Eurozone zukommt. Und natürlich garantieren Mehrausgaben für den Sicherheitsapparat noch keinen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel. Doch für Zynismus ist keine Zeit, wenn 2017 mit Marine Le Pen nicht in erster Linie eine Austeritätsgegnerin, sondern eine Feindin Europas, eine xenophobe Nationalistin, in den Élysée einzieht.Viermal hat die EU-Kommission seit 2009 die Frist verlängert, in der Frankreich sein Haushaltsdefizit korrigieren soll. Und dreieinhalb Jahre, seit seinem Amtsantritt, hat Hollande es nicht geschafft, dies für das Schmieden einer Allianz zu nutzen, die deutschem Merkantilismus den Garaus macht. Deutschland hat sich mit seinem Druck auf die Löhne exorbitante Exportüberschüsse erspielt, die sich gerade im Defizit und ökonomischen Niedergang seines französischen Nachbarn am hässlichsten spiegeln. Derweil müht sich die griechische Regierung, desaströse soziale Folgen des dritten Memorandums abzumildern. Doch die Zumutungen sind so groß, dass die nächste Staatskrise stets nah ist.Deutscher MerkantilismusWill Europa gemeinsam aus der Spirale der Desintegration ausbrechen, dann muss es nicht nur den rassistischen Agenden des FN, der FPÖ in Österreich oder der neuen PiS-Regierung im Nicht-Euro-Land Polen etwas entgegensetzen. Sondern dann braucht es auch endlich Mehrheiten für die drängenden Korrekturen der Eurozone.Zumindest gibt es hierfür einen Fahrplan – den Fünf-Präsidenten-Bericht der Chefs von Kommission, Rat, Euro-Gruppe, Europäischer Zentralbank und EU-Parlament. Vieles von dem, was eigentlich nötig wäre – eine institutionalisierte aktive Rolle der Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz etwa –, fehlt darin. Doch einige der Vorschläge sind gut und teils schon implementiert: die Bankenunion als länderübergreifender Mechanismus zur Kontrolle und Abwicklung von Instituten im Falle von Schocks und Krisen wie nach 2007. Nun geht die Kommission an die Vollendung und will ein europäisches Einlagensicherungssystem schaffen. Gebühren der Banken aus den Mitgliedsländern sollen im Krisenfall grenzüberschreitend zum Schutz der Kunden dienen, ihnen also die teilweise Auszahlung von Einlagen garantieren, bricht ihre Bank zusammen. Doch von der Bundesregierung kommt Widerstand – deutsche Banken und Sparer sollten nicht für andere im Euroraum haften. Um diese Blockadehaltung zu brechen, braucht es Entschlossenheit im restlichen Europa.Selbiges gilt für eine Entwicklung, die zuletzt mit dem Ökonomen Heiner Flassbeck sogar einen der zynischsten Gegner der Sparpolitik zu vorsichtigem Optimismus verleitet hat: Teil des Plans der Präsidenten ist die Einrichtung nationaler Ausschüssen zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit in Euro-Ländern. Flassbeck liest die hierzu bisher von der Kommission vorgelegten Dokumente so, dass es künftig nicht mehr nur darum gehen soll, Ländern wie Griechenland mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zu attestieren, um sie zu Lohnkürzungen zu drängen. Er meint Anzeichen zu erkennen, dass es nun endlich auch Überschussländern, allen voran Deutschland, mit zu geringen Lohnsteigerungen an den Kragen gehen soll. Dies hat Flassbeck eine Replik des ebenso austeritätskritischen Wirtschaftspublizisten Norbert Häring eingebracht. „Wunschdenken“ sei Flassbecks Auslegung, es gehe weiter um „Lohndrückerei und sonst gar nichts“.Noch sind die Ausschüsse nicht installiert. Was sie tatsächlich tun werden, das hängt von den politischen Dynamiken in Europa ab. Gelingt die Allianz progressiver Kräfte, dann muss diese nicht zuletzt dafür Sorge tragen, die Staaten aus der Abhängigkeit von den Finanzmärkten zu befreien. Dafür braucht es nicht einfach nur neue Schulden für nötige Investitionen. Sondern Umverteilung zu Lasten der Vermögen.Placeholder link-2
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