Wenn die Süddeutsche Zeitung "Jetzt wird regiert" auf ihre Titelseite schreibt und ein Blog-Kommentar zum SPD-Mitgliedervotum mit "Uff, geschafft!" beginnt, so sind das nur zwei von so vielen Ausdrücken der Erleichterung, wie sie den politischen Diskurs jetzt dominieren – Hauptsache, Deutschland hat endlich eine Regierung! Da interessiert es nicht mehr groß, dass sich diese aus drei Parteien zusammensetzt, die im September 2017 jeweils deutliche Verluste verzeichneten. Oder dass ein Koalitionsvertrag vorliegt, der eine Fortsetzung des Versagens nicht nur, aber vor allem in der Sozial- und Klimapolitik verspricht. Hauptsache, irgendjemand regiert irgendwie.
Groß muss auch die Erleichterung unter SPD-Mitgliedern sein, die im Willy-Brandt-Haus ihre Partei, im Bundestag die Büros ihrer Abgeordneten und im Wahlkampf Werbestände organisieren. Schon wieder Wahlen? Schon wieder um den eigenen Job fürchten? Sich schon wieder Beschimpfungen und Spott auf der Straße aussetzen? Was sollten sie den Leuten denn erzählen?
Genau das ist die entscheidende Frage, und sie betrifft nicht nur die SPD. "Erneuerung" – diesen Begriff diskutieren viele rein personell (Andrea Nahles als erste SPD-Chefin!) und organisatorisch (Mehr Online-Formate zur Beteiligung von Parteimitgliedern!), nicht aber in Bezug auf das, woran es mangelt: an inhaltlichen Alternativen. An Schwerpunkten, die über ein bisschen Steuerentlastung für "die Mitte" und Ankündigungssalven für "die Digitalisierung" hinausgehen.
Erwerbslose als Ministerinnen
Das hat mit dem Personal in Parteien und Parlamenten, aber auch in den Medien zu tun. Politikerinnen und Journalisten, die Erwerbslosigkeit selbst erlebt haben wie Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach, gibt es kaum. Arbeiterinnen und Arbeiter sind im Bundestag wie in den Parteien, und gerade auch in der SPD, gegenüber meist akademisch ausgebildeten Angestellten in klarer Unterzahl. Für letztere dürften etwa der Abbau des Solidaritätszuschlags und die Erhöhung des Kindergeldes durchaus erfreulich sein und all die Volatilitäten – Finanzialisierung, Ungleichheit, Rechtsruck – zumindest ein kleines Bisschen in den Hintergrund treten lassen. Jemand, der Hartz IV nicht nur aus der Ferne der Ministerialbürokratie kennt, erringt selten einen Listenplatz für eine Wahl. Und auch deshalb gelingt es bisher keinem politischen Akteur in Deutschland, Ungleichheit, Armut und die Alternativen dazu in den Mittelpunkt der Debatten zu stellen.
Wenn nun in Reaktion auf die Bildung der nächsten schwarz-roten Bundesregierung einige zu neuem Aufbruch rufen – sei es die Plattform mit Marco Bülow, die linkspopuläre Sammlungsbewegung mit Sahra Wagenknecht, die Verbreiterung der Linken mit Katja Kipping und Bernd Riexinger oder die Neuausrichtung der Grünen mit Robert Habeck und Annalena Baerbock –, dann sollten sie alle die Homogenisierung des politischen Personals mit berücksichtigen – und in den Mittelpunkt ihrer Mobilisierung die Frage stellen, wie sich die für die Demokratie zurückgewinnen lassen, die sich an dieser schon längst nicht mehr beteiligen, meist nicht einmal mehr durch Stimmabgabe für die AfD.
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