Es liegt nicht nur ein Hund begraben

Wende Die Bauern im Osten erwirtschaften 25 Jahre nach der Einheit mehr Geld als ihre Kollegen im Westen. Trotzdem hegen viele großen Groll
Ausgabe 43/2014
Die Bio-Bauern Frank (l.) und Markus (r.) Thumernicht haben Nebenjobs: in einer Werkstatt und im Tagebau
Die Bio-Bauern Frank (l.) und Markus (r.) Thumernicht haben Nebenjobs: in einer Werkstatt und im Tagebau

Bild: Sebastian Puschner

Zumindest passiert das erst jetzt am Nachmittag, kurz vor Feierabend. Die Äcker für die Roggenaussaat sind fast fertig gepflügt, als der Bauer Markus Thumernicht vom Trecker steigt, seinen Vater heranwinkt und die Motorklappe öffnet. Ein Schlauch leckt, Diesel tropft herab. Sie werden auf ihren Hof fahren und das reparieren müssen. Dabei ist Markus Thumernichts Trecker der neuere, 18 Jahre alt. Der, mit dem sein Vater gleich mit 25 Stundenkilometern über die Landstraße schleichen wird, zählt 43 Jahre. „Ist noch aus der DDR“, sagt der Vater. Das ist kein Lob der Maschinenproduktion in der DDR. Frank Thumernicht, der Senior, 54 Jahre alt, dunkle Stiefel, Arbeitslatzhose, verblichene Schildmütze, will sagen: Ihr kleiner Bio-Familienbetrieb hier im Südosten Brandenburgs, fünf Kilometer von der Mündung der Neiße in die Oder, ist der Konkurrenz weit unterlegen. Der eine Trecker leckt, auf dem anderen kleben zwei Plaketten: vom Bio-Verband Naturland, zu dem der Hof gehört, und vom Oldtimerclub.

Als Frank Thumernicht sein Fahrzeug auf die Landstraße setzt, donnert auf der Gegenspur die Konkurrenz vorbei: ein Trecker, doppelt so groß, doppelt so schnell wie die der Thumernichts, und höchstens ein paar Jahre alt, hinten ein Hänger voller Mais. Thumernicht senior blickt ihm nach und sagt: „Der da am Steuer ist kein Bauer, der ist Treckerfahrer. Sitzt das ganze Jahr auf der Maschine und fährt seine Monokulturen ab, um damit die Biogasanlage zu beliefern. Und das Getreide spritzt er tot, bevor es zu Mehl wird.“

25 Jahre sind vergangen seit dem Ende der Mauer und der Planwirtschaft im Osten, in diesen Wochen ziehen Wirtschaftsforscher Bilanz. Die meisten halten das vergangene Vierteljahrhundert für eine Erfolgsgeschichte. Zwar liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten bei nur 71 Prozent dessen, was im Westen erwirtschaftet wird. Das verfügbare Einkommen beträgt 83 Prozent des Vergleichwerts und privates Vermögen halten Ostdeutsche nicht einmal halb so viel wie Westdeutsche. Aber enttäuscht könne davon nur sein, wer dem Versprechen von „blühenden Landschaften“ naiv Glauben geschenkt habe, die völlige Gleichheit von Lebensbedingungen sei eine Illusion. So erklärt es das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.

In dessen Bericht zu „25 Jahren Mauerfall“ ist die Landwirtschaft nur eine Randnotiz. Dabei stellt sie neben Bergbau und Energieversorgung eine von den gerade mal drei Branchen dar, in denen die Wertschöpfung des Ostens die des Westens überholt hat. 1991 erwirtschaftete ein Ost-Bauer umgerechnet 9.000 Euro, ungefähr halb so viel wie ein West-Bauer. Heute sind es 36.000 Euro gegenüber 29.000 im Westen.

Doch hinter den Zahlen verbirgt sich eine komplizierte Geschichte, die bis heute für viel Groll sorgt. „1989 liegt der Hund begraben“, sagt Markus Thumernicht, der Junior – damals sieben, heute 32 Jahre alt. „Man hätte ganz von vorne beginnen können.“ Dann könnte er sich heute vielleicht die Gelegenheitsjobs im nahen Tagebau sparen, seine Mutter würde auf dem Hof statt an der Supermarktkasse in Eisenhüttenstadt arbeiten und der Vater bräuchte nicht noch nebenher eine Werkstatt für Landmaschinen zu betreiben.

Randnotiz Landwirtschaft

Jene komplizierte Geschichte geht für die Thumernichts so: Die, die in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR das Sagen hatten, rissen sich nach 1989 alles unter den Nagel. Die große Masse der Genossenschaftsmitglieder konnte zusehen, wo sie bleibt. „Die Bosse sackten die Technik, das Vieh und das Land ein, brachten ein neues Schild an und machten weiter“, sagt Frank Thumernicht. Der geeinigte Staat assistierte, vor allem mit Land: Die 1992 der Treuhand entsprungene Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) hat bis Ende 2013 rund 800.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche privatisiert und dem Bundesfinanzministerium allein im letzten Jahr 436 Millionen Euro in die Kasse gespült. Der Rest, 225.000 Hektar, soll bis 2025 weg sein. Der Kaufpreis steigt und steigt, fast 14.000 Euro waren es 2013 pro Hektar – weder Vater noch Sohn Thumernicht könnten das je in ihrem Berufsleben wieder reinholen.

„Als ich vor zehn Jahren bei der BVVG anrief, um mich nach Flächen hier in der Gegend zu erkundigen“, sagt Frank Thumernicht, „da hieß es, solche wie ich seien nicht vorgesehen, die BVVG müsse den Großbetrieben helfen, weil diese ja durch Straßen- und Radwegebau viele Flächen verlören.“ Aus der LPG, der die Thumernichts einst zugeschlagen wurden, ging eine Agrargenossenschaft hervor, die heute 5.700 Hektar bewirtschaftet. Weit mehr als die 243 Hektar, die ein Bauernhof in Brandenburg heute im Schnitt besitzt. In Bayern sind es durchschnittlich 34 Hektar. Wer 1989 von kleinbäuerlichen, familiären Strukturen im Osten träumte, wurde bitter enttäuscht.

Die Hälfte der Brandenburger Äcker bewirtschaften heute Großbetriebe, die sich immer mehr Land krallen und immer weniger Arbeitskräfte brauchen. „Wir werden von den Großen überrollt. Jetzt droht uns in Brandenburg der nächste Landwirtschaftsminister, der nur 1.000 Hektar aufwärts kennt“, sagt Frank Thumernicht.

Tatsächlich sind es bei dem, den er meint, 1.400 Hektar. Udo Folgart – Jeans, blaues Hemd, leicht kariertes Sakko – ist einer von sieben Gesellschaftern der Agro-Glien GmbH. Der Betrieb liegt im Havelland, 30 Kilometer südwestlich von Berlin, und ist aus der LPG Paaren hervorgegangen; von deren einst 7.000 Hektar bewirtschaftet er heute ein Fünftel, und zwar konventionell: Futter für die 280 Milch- und 100 Mutterkühe, 550 Rinder, Mais, Roggen, Weizen, Gerste, Raps. 15 Prozent des Landes bekam der Betrieb von der BVVG. Folgart, 58, parkt sein Auto vor dem kleinen Bau, der heute als Büro dient, es ist früher Freitagnachmittag. Er kommt gerade aus dem Süden Brandenburgs, von einer Besprechung mit Bauern, und dürfe bloß nicht vergessen, sich noch einen Schlips umzubinden, sagt er. Gleich muss er weiter zur Jubiläumsfeier der Landfrauen.

Landwirtschaftsminister in der nächsten rot-roten Landesregierung? Folgart winkt ab und führt in sein Büro. Er hat schon genug zu tun. Präsident des Bauernverbandes Brandenburg, Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes, agrarpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag und Teilhaber eines Betriebs, dessen Jahresumsatz knapp über zwei Millionen Euro liegt. 2009 war er Frank-Walter Steinmeiers Schattenminister für Landwirtschaft; aus Steinmeiers Kanzlerschaft wurde nichts, aber das ficht Folgart nicht an: in seinem Wahlkreis haben sie ihn gerade wieder in den Landtag gewählt – mit mehr Stimmen als bei den beiden Wahlen zuvor und 15 Prozentpunkten Vorsprung auf den CDU-Bewerber.

Udo Folgart, war bis 1989 Chef der LPG Paaren. Heute ist er Bauer, Lobbyist und Politiker in Brandenburg

Folgart war Mitte der 1980er in die SED eingetreten, „wenn dich jemand anspricht, dann nimm gleich die richtige Partei“, habe ihm ein Kollege geraten. Eigentlich konnte er mit Parteien nichts anfangen, „mein Elternhaus war durch und durch unpolitisch“. Aber dann hatte er gerade eine leitende Tätigkeit in der LPG Paaren übernommen, Parteieintritt, warum nicht? 1986 wurde er LPG-Vorsitzender.

Dann kam das Ende der DDR.

„Alles war sehr kompliziert und ging ziemlich schnell“, sagt Folgart. „Wir mussten in einem Zeitfenster von zehn Monaten handeln, während dem es fünf Änderungen am Landwirtschaftsanpassungsgesetz gab. Jemand musste sich an die Spitze der Bewegung stellen und sagen, wo die Reise hingeht.“

297 Mitglieder hatte Folgarts LPG. Wurden die übers Ohr gehauen? „Hätten sie damals alle gesagt, sie wollten ihre einst kollektivierten Höfe neu einrichten, dann hätten wir eine andere Fragestellung zu besprechen gehabt. Dann hätten wir eine Aufteilung von Inventar, Vieh und Land auf sehr viel mehr Betriebe zu bewerkstelligen gehabt. Aber hier war es so: Die meisten wollten nicht.“ 40 Jahre DDR und die Kollektivierung hätten auch dazu geführt, dass anderthalb Bauerngenerationen verloren gingen. „Es gab keinen Zwang mehr, eine Hofnachfolge in der Familie zu organisieren.“

Also holte Folgart wie vorgeschrieben Berater aus dem Westen, machte Termine beim Notar, schloss neue Pachtverträge mit den einstigen LPG-Genossen, behielt einige als Arbeiter und schickte viele in den Frühruhestand. Immerhin 60 einstige Genossen wurden Teilhaber der Agro-Glien GmbH, „aber sie wurden mit der Zeit immer älter und ihre Kinder konnten mit der Landwirtschaft nichts anfangen“. Um sie auszubezahlen, holte er einen Unternehmensberater und Bauernsohn vom Niederrhein ins Boot, der in einen anderen LPG-Nachfolgebetrieb in der Nähe eingestiegen war. „Jeder hatte damals die freie Möglichkeit, sich neu zu orientieren“, sagt Folgart.

Für Frank Thumernicht war die Entscheidung damals, 1989, längst gefallen. Er wurde Teil einer verlorenen Bauerngeneration.

Die Thumernichts haben ihre beiden Trecker auf den Hof gefahren, der 900-Einwohner-Ort heißt Wellmitz. Das Wohnhaus ist zur Straße hin gebaut, gegenüber eine Scheune für die Fahrzeuge und die Ernte, an den Längsseiten zwei alte, leere Stallungen. Bis kurz vor 1900 können sie ihre Familiengeschichte hier zurückverfolgen. Ein halbes Jahrhundert später kam die Kollektivierung. Frank Thumernicht, der Senior, sagt: „Mein Vater wollte in den Westen und ging doch in die LPG.“

Schocktherapie oder Naivität?

Frank Thumernicht hatte die Landwirtschaft schon abgeschrieben, Heizungsbauer gelernt und später zum Landmaschinenmechaniker umgeschult. Er heuerte in der Wartburg-Werkstatt eines Schulfreundes an, 1990 wurde daraus ein Renault-Autohaus. „1991 fuhr dann das ganze Dorf Renault.“ Sein Sohn Markus lernte im Autohaus Kfz-Mechaniker. Die Äcker verpachteten sie an den LPG-Nachfolgebetrieb.

Warum? „Weil alles im stillen Kämmerlein lief und niemand Inventar, Vieh und Land zu Buche gebracht hat. Keiner von uns wusste, was kommt“, sagt Frank Thumernicht. „Außerdem hattest du gute Arbeit“, sagt sein Sohn.

Schocktherapie der alten Bosse? Naivität der kleinen Genossen? So oder so: Nach 40 Jahren real existierendem Sozialismus war es in der Landwirtschaft nicht weit her mit dem Bewusstsein für kollektives Eigentum.

Zehn Jahre später war der Einzugsbereich von Wellmitz mit Renaults gesättigt. Die Pachtverträge für die Äcker der Thumernichts liefen aus und der Senior hatte noch sein halbes, der Junior sein ganzes Berufsleben vor sich. Die Familie setzte sich zusammen und beschloss: „Wir machen jetzt das, was wir am besten zu können glauben: Landwirtschaft“, sagt Frank Thumernicht.

Was die BVVG nicht zulassen wollte, dafür sorgte die Kirche: Die Thumernichts bekamen mehr Land. „Der junge Pfarrer mit dem Doktortitel wollte die Flächen der Gemeinde nicht weiter totspritzen lassen und gab sie uns, da wir Bio-Produktion planten.“ Sie bewirtschaften heute 150 Hektar, liefern Viehfutter an Öko-Betriebe und Stroh an Pferdehöfe, sie vermehren Saatgut und haben vier Rinder auf der Weide hinter dem Haus. Gerade haben sie sogar Kredite für einen neuen Mähdrescher aufgenommen. „Im Zweifelsfall ist nur der wieder weg, aber das Land bleibt uns“, sagt Frank Thumernicht.

Brandenburgs Landtag hat jüngst eine Enquetekommission die „Transformation der DDR-Landwirtschaft nach 1989“ untersuchen lassen. Der Abschlussbericht ist ein Sammelsurium erwartbarer parteipolitischer Bewertungen. Die interessanten Sätze finden sich in den Gutachten der Kommission, etwa dem zur „Agrargeschichte des Landes Brandenburg nach 1989/90“ des Jenaer Juristen Walter Bayer. „Die LPG-Umwandlungen wurden in Brandenburg regelmäßig mit großer Mehrheit der LPG-Mitglieder oder sogar einstimmig beschlossen“, steht dort. Und: Fast jede der 355 LPG-Umwandlungen sei mit Fehlern behaftet gewesen; 39 sogar mit derart schweren Mängeln, dass sie eigentlich unwirksam seien.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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