Mal sehen, ob Markus Söder 2023 das geschafft haben wird, was Horst Seehofer 2013 gelungen ist. 2013, als Seehofer gerade fünf Jahre als Ministerpräsident Bayerns sowie CSU-Chef amtierte, holte seine Partei bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit zurück. 4,3 Prozent mehr als 2008 standen zu Buche, und diese Zugewinne entsprachen ziemlich genau den Verlusten der FDP; jene hatte da gerade fünf Jahre als Juniorpartner in einer für bayrische Verhältnisse ungewöhnlichen Koalitionsregierung gedient und musste den Landtag sodann wieder verlassen. Dass die CSU nun gerade wieder eine Koalition hat schließen müssen, diesmal mit den Freien Wählern, ist der größte unter vielen Maluspunkten, den sie in Bayern ihrem Noch-Parteichef ankreiden. Nicht nur in Bayern, sondern in der ganzen Republik gilt Seehofer im Jahr 2018 als Schuldiger für so allerhand. Da lohnt ein Blick zurück, um genau zehn Jahre.
Stoibers verpatzter Wechsel
Im Herbst 2008 lagen hinter der CSU nicht nur ein gescheiterter Wechsel des Spitzenpersonals, von Edmund Stoiber zu Erwin Huber und Günther Beckstein, sowie eine Landtagswahl mit Verlusten von 17,3 Prozent (2018 betrug das Minus 10,5 Prozent), sondern vor allem eine Epoche übelster Austerität. Stoiber hatte nach Erlangen der Zweidrittelmehrheit 2003 nur noch eine Devise gekannt: Sparen, bis es quietscht. Im fanatischen Gefecht für einen Haushalt ohne neue Kredite, das erbitterte Proteste von Trachtenvereinen, Polizisten ebenso wie Gewerkschaften erregte, war Stoiber ein Mann stets treu zu Diensten: Markus Söder, als CSU-Generalsekretär.
Während der heutige Ministerpräsident seit jeher als ein Machtpragmatiker ohne substanzielle inhaltliche Prinzipien gilt, war Seehofer das Christsoziale schon eingeschrieben, als Angela Merkel erst noch lernen musste, ihre Marktradikalität zu bemänteln, um Kanzlerin werden und bleiben zu können. 2005 trat Seehofer als Vize-Fraktionschef der Union im Bundestag zurück, im Widerstand gegen den nicht nur aus seiner Sicht unsozialen Kompromiss Stoibers und Merkels in der Gesundheitspolitik: Die Union drängte fortan auf eine Kopfpauschale, nach der jede Arbeitnehmerin, egal wie arm oder reich, den gleichen Krankenkassenbeitrag zahlen soll.
Als er 2005 mit Oskar Lafontaine dessen Buch Politik für alle vorstellte, lobte Horst Seehofer Lafontaines Kritik an der „neolibealen Irrlehre“ und beklagte, aus dem Volk der „Dichter und Denker“ sei ein Land der „Kostensenker“ geworden. Dass er 2013 die Bayern mit der CSU einstweilen wieder versöhnte und für Letztere die absolute Mehrheit zurückholte, lag mitunter daran, dass er ein soziales Kontrastprogramm zu Stoibers Neoliberalismus verkörperte. Und das gerade auch in Bezug auf die Herausforderungen der Flüchtlingszuwanderung von 2015 an: 125 Millionen Euro zusätzlich für neue Lehrer wollten die bayrischen Lehrerverbände damals Ministerpräsident Horst Seehofer abringen, als sie sich mit ihm trafen, um die Integration in Schulen zu besprechen (der Freitag 4/2016). Doch der hatte andere Vorstellungen. Er stellte 160 Millionen in den Nachtragshaushalt.
Von alledem ist in Horst Seehofers Zeit als Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat nur ein „Namensartikel“ in der FAZ geblieben, Ende April erschienen, kurz nach Amtsantritt. „Warum Heimatverlust die Menschen so umtreibt“, so ist der überschrieben, es steht dort unter anderem: „Die Alltagswelt der Menschen hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges rasant verändert, insbesondere durch den vermeintlichen Siegeszug des ökonomischen Liberalismus, dessen oberste Maxime die Selbstregulierungsfähigkeit freiheitlicher Systeme auf der Basis möglichst unregulierter und grenzenloser Märkte war und ist.“ Das könnte auch von Oskar Lafontaine stammen, oder von Sigmar Gabriel.
Sich von Seehofer so oft wie nur möglich zu distanzieren, das ist dieser Tage gerade für Sozialdemokraten oberstes Gebot. In einem aber unterscheiden sich viele aus der SPD nicht vom Noch-CSU-Chef: Gegen unregulierte und grenzenlose Märkte und die damit einhergehenden Zumutungen agitieren sie höchstens rhetorisch, nicht aber programmatisch und politisch. Sie sind seit Jahren mitverantwortlich für eine Regierungspolitik, die den Veränderungen in der Alltagswelt der Menschen höchstens kosmetische Maßnahmen entgegensetzt.
Bei Seehofer zeigte sich die Leere hinter den kritischen Worten am deutlichsten auf einem Feld, das prädestinierter nicht sein könnte für einen Paradigmenwechsel: die Wohnungspolitik. Die Teilnehmerliste des von Bauminister Seehofer vorbereiteten „Wohnungsgipfels“ ist nach wie vor unter lobbycontrol.de nachzulesen: Den sieben Immobilien- und Eigentümer-, den vier Baulobby- und drei Ingenieur- sowie Architektenverbänden standen der Deutsche Mieterbund und zwei Gewerkschaften gegenüber. Deutlicher lässt sich nicht zeigen, dass man die grundlegendste Dimension von Heimat – ein bezahlbares Dach über dem Kopf – den Märkten und deren privaten, profitorientierten Akteuren überlässt.
Man stelle sich vor, Seehofer hätte sein Ministeramt nicht mit einem Aufguss des Satzes „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ im März in der Bild angetreten, sondern mit einer deutlichen Ansage in Richtung SPD-Finanzminister Olaf Scholz, wonach der Staat selbst fortan Wohnungen bauen werde, deren Mietpreis sich an der Gemeinwohl- und nicht an der Markt- und Profitlogik orientiert.
Die Logik, der Horst Seehofer stattdessen folgte, ist keine. Die hasserfüllte Sprache der AfD nachzuahmen, hat diese nur weiter gesellschaftsfähig gemacht. Ihren kruden Zynismus selbst zu formulieren, hat ihren Einzug in nunmehr alle Parlamente nicht verhindert. Vor allem aber steht die von Horst Seehofer forcierte Phantomdebatte über seinen vermeintlichen „Masterplan“ in krassem Gegensatz zum „sichtbaren und spürbaren Staat“, von dem er in der FAZ geschrieben hatte. Sicht- und spürbar wurde da nur eine Bundesregierung, die Tag für Tag streitet wie die Kesselflicker, um ihre aus dem Jahr 2015 herrührenden Dissonanzen auszubreiten. Anstatt eine Antwort auf das zu finden, was 2015 zutage getreten ist: das Scheitern der 1992 aufgesetzten deutschen Asylpolitik, die nur darauf ausgerichtet war, anderen Staaten die Auseinandersetzung mit der wachsenden Zahl von Flüchtenden zu überlassen.
Tuuut, tuuut
Nichts hat jene Antwortlosigkeit Seehofers besser dokumentiert als diese Szene aus Robin Alexanders Buch Die Getriebenen: sein ausgeschaltetes Handy, seine Unerreichbarkeit für Kanzlerin Merkel in der Nacht, als sie mit ihm als CSU-Chef über die Flüchtlinge sprechen wollte, die auf der ungarischen Autobahn in Richtung Deutschland unterwegs waren. Auch nach Merkels humanitärer Entscheidung erschöpfte sich Seehofers bundespolitisches Agieren im Beharren auf die rechtliche Möglichkeit von Grenzschließung und Zurückweisung. Es war genau das Beharren derer, denen Seehofer bald im Innenministerium vorstehen würde, Bundespolizeichef Dieter Romann (der Freitag 40/2018) und Hans-Georg Maaßen. Dabei hätte Seehofer in Bayern die besten Argumente zur Hand gehabt, um Merkel auf ganz anderem Wege anzugreifen – in Bezug auf ihre Untätigkeit hinsichtlich der sozialen Folgen jener Entscheidung von 2015: Nicht nur Schulen wurden in Bayern viel besser als anderswo ausgestattet, um die Ankunft der vielen Geflüchteten zu stemmen.
So wird Merkel vielen für einen Akt der Humanität in Erinnerung bleiben, nicht für ihre lange Politik sozialer Spaltung. Seehofer werden viele nicht in erster Linie als Christsozialen im Gedächtnis behalten, sondern als den Querulanten, der er auf der letzten Etappe seiner Politkarriere war – als einen zwischen Merkel und der AfD Zerriebenen, der am Ende nicht einmal sein Ziel erreicht hat, Markus Söder zu verhindern. Söder wird jetzt wohl sogar Parteichef werden.
Ob es Seehofer Genugtuung verschafft, ein paar Tage nach Merkel von der Parteispitze abzutreten, und ob es ihn gelüstet, seinen letzten Tag als Minister in Berlin auf den letzten Tag der Großen Koalition fallen zu lassen, interessiert schon kaum mehr.
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