„Das Establishment übt sich in Leugnung“

Interview Yanis Varoufakis über die verschiedenen Deutungen der Griechenlandkrise
Ausgabe 51/2016
„Wir haben viel zu tun“
„Wir haben viel zu tun“

Foto: Yorgos Karahalis/Bloomberg/Getty Images

Seit seinem Rücktritt als Finanzminister Griechenlands im Juli 2015 ist von Yanis Varoufakis nur noch vergleichsweise wenig zu hören – zumindest in Deutschland. Im Februar 2016 hatte der Ökonom die europäische Bewegung DiEM25 mitgegründet. Deswegen verbringe er weiter viel Zeit in Flugzeugen, sagt Varoufakis, sei aber weiter in Griechenland zu Hause und plane auch nicht, daran etwas zu ändern. Warum Griechenland trotz einer mit 46,5 Prozent weiter nur knapp über Spanien liegenden Jugendarbeitslosigkeit hierzulande aus dem Fokus der Medien verschwunden ist? „2015 rebellierten wir inmitten dieses Schulden-Gefängnisses namens Griechenland“, sagt er, „und wie Sie wissen, haben Gefängnisaufstände einen Nachrichtenwert. Letzteren haben wir verloren, als die Griechen nach dem Staatsstreich der Eurogruppe und der Troika im Sommer 2015 zu stillem Leiden zurückkehrten.“

der Freitag: Herr Varoufakis, die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist auf 9,8 Prozent gefallen, den niedrigsten Wert seit Juli 2009. Man könnte meinen, die Dinge würden besser ...

Yanis Varoufakis: Ich garantiere Ihnen eines: Wer im Stadium der Verleugnung verhaftet bleiben will, kann das auch heute problemlos tun, indem er Daten entsprechend liest. Wer aber die ungeschönte Wahrheit will, der muss wissen, dass sich der Zustand der Eurozone nur mit zwei Worten beschreiben lässt: Stagnation und Zerfall.

Die ungeschönte Wahrheit, bitte.

Im gemeinsamen Wirtschaftsraum der Eurozone sind heute sechs Millionen Leute weniger in Vollbeschäftigung als zu Beginn der Krise. 3,5 Millionen Menschen mehr brauchen Arbeitslosenunterstützung. Das Bruttoinlandsprodukt ist auf dem Niveau von 2007 – pro Kopf ist es niedriger, weil es sich auf eine größere Zahl von Bürgern verteilt. Investitionen in die Realwirtschaft fallen heute um 11,7 Prozent niedriger aus als zu Beginn der Krise. Schlimmer, noch viel schlimmer ist der Blick auf die Bestandteile der Eurozone.

Deutschland steht gut da.

Ja, die Kapitalströme rauschen in die Banken der Überschussländer wie Deutschland oder Holland. So werden weiter ohne Unterlass Wüsten in der Peripherie kreiert: Brutale Krise in Griechenland oder Portugal, ein untragbarer Zustand in Italien, Frankreichs Staatshaushalt außer Kontrolle, Bankensysteme, die effektiv insolvent sind.

Es gibt ja noch die EZB. Mario Draghi hat deren expansive Geldpolitik bis Ende 2017 verlängert und die Anleihenaufkäufe von April an ein wenig gedrosselt.

Draghi ist between a rock and a hard place: Denn das Quantitative-Easing-Programm ist am Limit und zugleich scharfer Kritik aus Deutschland ausgesetzt, bevor es seine Ziele erreicht hat. Draghis Akt der Verzweiflung zuletzt ist den konkurrierenden Forderungen an ihn geschuldet: Deutschland will zum Schutz seiner Altersvorsorge und kleinen Banken ein Ende von Quantitative Easing, der Rest der Eurozone will die Fortsetzung, um Italien, Spanien und so weiter drin zu halten. Zu Draghis Problemen gehört, dass er wegen rechtlicher und politischer Zwänge nicht mehr italienische, spanische und portugiesische Anleihen kaufen kann, ohne viel mehr deutsche zu kaufen. Zudem kann er das von der EZB gedruckte Geld nicht in eine ausreichend große Menge von Anleihen stecken, die direkt produktiven Investitionen, etwa in erneuerbare Energien, zugute kämen. Und er hat es nun mit dem Trump-Effekt und steigenden Zinsen in den USA zu tun – in einer Zeit, in der die Investitionen in Europa, verglichen mit den Spareinlagen, im Keller sind.

Das ist der Punkt, an dem viele dem deutschen Finanzminister sagen: Mach endlich deinen Job und investiere! Darauf antwortet Schäuble: Tue ich doch längst.

Europas politische Klasse hat eine Falle gebaut, die Austeritätsfalle. Sie ist reingefallen, was sie im Nachhinein der EZB anlastet. Aber der Stand staatlicher Investitionen ist der niedrigste seit 1950, und das vor allem in Deutschland, wo die öffentliche Hand schon seit Jahren die Infrastruktur vernachlässigt, obwohl sie kostenlos Kredite aufnehmen kann. Die paar Milliarden jetzt? Zu wenig, zu spät. Das ist der Skandal, für den die Deutschen ihre Regierung verantwortlich machen, die Pflichtverletzung, für die sie Schäuble kritisieren sollten.

Das haben Sie ja schon getan, in der Eurogruppe. Schäuble hat sie dann als Professor verspottet. War es naiv zu glauben, in diesem Gremium makroökonomische Debatten führen zu können?

Ich gestehe: Ja, ich verwendete die Sprache der Makroökonomie, um über makroökonomische Fragen zu sprechen, von deren korrekter Beantwortung das Leben meiner Leute abhing. Ich stellte meine Zahlen vor, meine Analyse – alles korrekt, alles präzise. Ich forderte die anderen Mitglieder der Eurogruppe auf, mir eine Zahl oder auch einen Teil meiner Analyse zu nennen, der ihrer Meinung nach nicht korrekt war. Aber sie haben das einfach nicht gelesen. Und das ist es, worüber Sie und Ihre Leser sehr besorgt und verärgert sein sollten, ob Sie mit meiner Sicht der Dinge übereinstimmen oder nicht: Erstens wurden die Vorschläge des Finanzministers eines hoffnungslos bankrotten Landes nie gelesen. Zweitens wurden Lügen erzählt wie die, dass wir falsche Zahlen, schlechte Analysen und stümpferhafte Vorschläge vorgelegt hätten.

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle dabei, dass es in den Medien 2015 sehr viel mehr um Ihre Person, Ihre Lederjacke und Ihr Motorrad ging als um Inhalte?

Lassen Sie mich zuvor noch etwas zu Ihrer vorherigen Frage sagen: Besorgt es Sie nicht, dass Ihre ökonomische Lage von einer Eurogruppe abhängt, wo makroökonomische Entscheidungen von Ministern getroffen werden, die es als unhöflich betrachten, wenn dort solide makroökonomische Analysen verwendet werden? Könnte das nicht die Erklärung für diese nicht enden wollende Krise sein? Zur Berichterstattung über meine Person: Ich lehne das ab und hatte nie etwas damit zu tun. Wann immer ich im Zentrum einer Story stand, wusste ich gleich, dass die für die Europäer entscheidenden Themen dabei unter den Teppich gekehrt werden würden.

Wie sehen Sie heute den Umgang deutscher Medien mit Ihnen?

Die Frage sollte eher die nach dem Umgang mit ihrem Publikum sein. Harte Kritik an meinen Positionen wäre nicht nur in Ordnung, sondern die Pflicht deutscher Medien gewesen. Aber massiv zu verfälschen, was ich sagte, nicht über meine Vorschläge zu berichten und zugleich zu behaupten, ich hätte keine – das war Zeichen einer verkommenen Medienlandschaft, die Ihrer Demokratie schadet.

Sie waren bei Günther Jauch.

Ich hatte erst abgesagt. Doch Jauchs Mitarbeiter bekniete mich: Mein Auftritt als ein langjähriger Warner und Freund Deutschlands solle dienen, um eine neue Brücke zwischen Griechen und Deutschen zu bauen. Wer die Sendung sah, der weiß: Das war eine zynische Masche, um noch mehr Hass zu stiften und so die Quote zu heben.

Gerade wird viel über Fake News und die Macht sozialer Medien diskutiert. Einige machen diese für den Brexit und die Trump-Wahl verantwortlich.

Zuerst hat sich das Establishment in Leugnung geübt. Dann, als seine absurde Handhabung der Krise Monster wie Trump, den Brexit oder die AfD erzeugt hatte, machte es die Technologie verantwortlich. Alles, um einen aufrichtigen Blick in den Spiegel zu vermeiden. Ich bestreite nicht, dass die sozialen Medien die Toxizität des heutigen nationalistischen Revivals verstärken. Aber sie für die Ursache zu halten? Es wäre lachhaft – wenn es nicht so gefährlich wäre.

Warum dieses nationalistische Revival? Warum kein Erstarken der linken Kritik am Status quo?

Blicken Sie auf 1930, dann haben Sie Ihre Antwort. Wann immer eine Finanzkrise die Geldkreisläufe des Kapitalismus zersplittern lässt und das Establishment die Kosten dafür den Schwächsten aufzwingt, dann werden Xenophobie und Autoritarismus folgen. Und das heißt: Quasi-Faschismus, Patriarchat, Menschenhass.

Vielleicht hat das Ganze ja auch mit einer linken Leerstelle zu tun, dem Fehlen überzeugender Ideen und Narrative.

Es hat nie an Ideen gemangelt. Was es gab, wie um 1930: eine sozialdemokratische Partei, die allzu sehr darauf bedacht war, sich ins Establishment zu integrieren. Und tiefe Spaltung inmitten guter, anständiger Leute: Liberale, Marxisten, Feministinnen, Grüne. Während sich die Fanatiker hinter gefährlichen Vereinfachungen sammeln, neigen die Progressiven dazu, gegeneinander zu kämpfen und damit jener nationalistischen Internationalen zum Opfer zu fallen.

Kann Ihre Europa-Bewegung DiEM25 das ändern?

Wenn sie es nicht kann, dann ist Europa am Ende. Was wir tun, das ist so schlicht wie unerlässlich: Wir versuchen über Länder-, Partei- und Ideologiegrenzen hinweg ein Bündnis von Demokraten – Linke, Grüne, Liberale, unabhängige Denker, progressive Konservative – zu schließen und auf der Grundlage gemeinsamer humanistischer Grundsätze eine Agenda für ein internationalistisches, fortschrittliches Europa zu entwerfen.

Was heißt das konkret?

Die erste große Herausforderung ist gerade, eine Strategie für einen Green New Deal zu entwerfen, wir werden sie Ende Februar in Paris vorstellen – als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Agenda, die wie ein Magnet für Europäer wirken soll, die genug haben von ihrem inkompetenten Establishment. Und zugleich entschlossen sind, den Vormarsch der nationalistischen Internationalen zu stoppen.

Bisher wirkt es, als stieße DiEM25 in polyglotten Städten wie Paris und Berlin auf Interesse, außerhalb davon aber kaum.

Alle progressiven Bewegungen haben ihren Anfang in Städten genommen. Wo war die Wiege der Politik? In der Polis, in der Stadt. Aber Sie haben Recht: Wenn wir nicht darüber hinaus wirken, werden wir keinen Erfolg haben. Wir stehen noch am Anfang. Und wir haben viel zu tun.

Zur Person

Yanis Varoufakis, 55, hat in Großbritannien einen Bachelor in Wirtschaftsmathematik und einen Master in mathematischer Statistik erworben. Er promovierte mit einer unter anderem spieltheoretischen Analyse von Streiks und lehrte etwa in Glasgow, Sydney, Stockholm, Austin – und Athen, wo er derzeit freigestellt ist. Sein Buch Der globale Minotaurus von 2011 dreht sich um die Entstehung der Finanzkrise. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch Das Euro-Paradox (Kunstmann 2016, 384 S., 24 €)

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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