Wo heute Flugzeuge mit ihrem Lärm 300.000 Menschen das Leben zur Hölle machen, würde die FDP in Zukunft sicher ihre Wahlkampfstände aufbauen: Berlin-Tegel soll nach dem Willen des rot-rot-grünen Senats nicht mehr Flughafen sein, sondern „Urban Tech Republic“ – Start-ups Tür an Tür mit Forschern, Technologielaboren, 245 Hektar Grün- und Landschaftsfläche. 9.000 neue Wohnungen, sechs Kitas, Schule, Jugendzentrum. 20.000 Jobs „im Bereich der Zukunftstechnologie und durch die Ansiedlung kreativer Start-ups“.
Die FDP in Berlin aber kämpft dafür, dass Tegel keine „Urban Tech Republic“ wird, sondern ein Innenstadt-Flughafen bleibt. Am 24. September soll das ein Volksentscheid in die Wege leiten. „Digital first. Bedenken second“?
Im Pop-up-Store der Liberalen in Berlin-Mitte trägt Sebastian Czaja an diesem Montagabend lauter Bedenken vor. Wer kann es ihm verdenken? Czaja, 34, ist seit bald einem Jahr Chef der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und ohne jene Bedenken gäbe es seine Fraktion nicht. Ohne Start und Erfolg ihres Flughafen-Volksbegehrens hätte die FDP 2016 den Einzug in das Parlament der Stadt verfehlt, wie 2011. „Der BER ist viel zu klein geplant“, sagt Czaja also, „er wird den steigenden Passagierzahlen niemals gerecht werden.“
Der BER in Schönefeld sollte eigentlich längst Berlins einziger Großflughafen und Tegel deshalb geschlossen sein. Wer glaubt schon an 245 Hektar Grün und 20.000 Arbeitsplätze in Tegel, wenn sich dem Zahlen aus Schönefeld entgegenhalten lassen: 2011, Jahr des ersten, abgesagten BER-Eröffnungstermins. „Mehr als 1.800 Tage Nicht-Eröffnung“, sagt Czaja jetzt, und „1,3 Millionen Euro Kosten pro Tag“, die das Baustellen-Fiasko verursache. „1,3 Millionen Euro pro Tag“, wiederholt leise einer aus dem Dutzend Zuhörer, die hier auf gelb, magenta und blau lackierten Holzstühlen sitzen, Becks blue und Coke zero vor sich.
Das Geländer der kleinen Wendeltreppe ist halb in Knallorange gehalten und halb in Rostbraun, die anderen Räume sind weiß gestrichen und leer, um After-Work-Partys und Vernissagen im Wahlkampf Raum zu geben. Ein Flyer des Berliner Bundestagsspitzenkandidaten liegt aus, darunter in Magenta der Schriftzug „Tegelretter“, womit auch jeder Facebook-Nutzer sein Profilbild versehen kann. Das tun etliche in der Hauptstadt, denn Tegel war einst Flughafen der Insel Westberlin und ein Symbol; irgendwie funktioniert der Flughafen heute noch, trotz ausgebliebener Investitionen aufgrund der geplanten Schließung – das perfekte Gegenbild zum BER-Horror. Für Letzteren standen die, die heute die Stadt regieren, stets (SPD), zeitweilig (Linke) und nie (Grüne) in Regierungsverantwortung, bevor sie 2016 koalierten.
Rot-Rot-Grün schwärmt
Jetzt können sie noch so viel von Tegels grüner Tech-Zukunft und Entlastung für 300.000 Menschen schwärmen, die Behauptung von ungenügenden BER-Kapazitäten als „falsch“ bezeichnen, auf Erweiterungspläne verweisen und „ewigen Streit vor Gericht“ prognostizieren, was selbst Rechtsvertreter der Flughafen-Befürworter bestätigen. Doch als Eröffnungsjahr für den BER kursiert derzeit 2020.
Was alle Tegelretter entspannen sollte, denn ohne BER-Eröffnung keine Tegel-Schließung, ein halbes Jahr Übergangsfrist zwischen beidem sehen die Gesetze vor. Sie müsste der Senat ändern, soll Tegel ewig Flughafen bleiben, aber nur im Einvernehmen mit Brandenburg; der Bund kann den Weiterbetrieb untersagen, was er unter einer von Angela Merkel geführten Regierung müsste, soll das Wort der Kanzlerin etwas wert sein: Sie ist für die Schließung. Kommt die nicht, werden Menschen, denen ein Leben ohne 55 bis 60 Dezibel Fluglärm in den eigenen vier Wänden versprochen wurde, alle Rechtswege ausschöpfen und den juristischen Streit um Tegel in einen Wettlauf mit der Baustelle BER schicken.
Zeit hat Sebastian Czaja, und Geld auch: die Billig-Airline Ryanair, die für Berlin drei Flughäfen fordert, spendierte für 30.000 Euro 100 Wahlplakate, auf denen oberhalb von Firmen-Logo und -Slogan der Satz „Berlin braucht Tegel“ prangt. Die Ausbeutung von Flug- und Bodenpersonal verschafft eben finanzielle Spielräume, die sich am Ende rechnen: Kommerzielle Werbeplakate wären teurer gekommen.
Im Pop-up-Store nennt ein Zuhörer den Volksentscheid nun „Ventil“, doch selbst wenn er gelänge – „der Senat wäre total überfordert“, sagt ein anderer, da brauche es Druck, „einer muss es pushen“. Was der hiesigen Bundestagsdirektkandidatin der FDP ein Lächeln der Entzückung ins Gesicht zaubert, sie drückt den Rücken durch und weist mit beiden Händen auf den Parteifreund Czaja neben sich: „Hier sitzt er.“ Sollten sich die Tegel-Befürworter, zu denen auch die AfD zählt, durchsetzen und Rot-Rot-Grün dann „keine Demut vor dem Wähler zeigen“, so hat der FDP-Fraktionschef ein Abwahl-Referendum in Aussicht gestellt. Zwar sind die Hürden hoch – die Hälfte aller Wahlberechtigten muss teilnehmen, eine Mehrheit für die Parlamentsauflösung stimmen. Doch um die einzige rot-rot-grüne Regierung unter SPD-Führung mit Tegel zu beschäftigen statt mit Schulmodernisierung und Wohnraumkommunalisierung, käme ein Sieg beim Volksentscheid zupass.
Das Quorum ist kein Problem, dank Rot-Rot-Grün. Volksentscheide nicht mehr aus Demobilisierungsgründen so weit wie möglich von Wahltagen zu trennen, das versprachen die drei Parteien und lösten es auch ein: Ihre Gegner in Sachen Tegel dürfen am Wahltag antreten. Vielleicht zahlt sich das am Ende aus. Die junge Geschichte direkter Demokratie in Berlin ist eng verwoben mit der des Luftverkehrs: 2008 ließen die Berliner einen Volksentscheid über den Weiterbetrieb des anderen Innenstadt-Flughafens, in Tempelhof, scheitern. 2014 setzten sie durch, dass Tempelhof Freifläche bleibt. Das BER-Debakel war da übrigens schon in vollem Gange.
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