Graue Gitter vor buntem Hausprojekt

Ohne Plan Innensenator Frank Henkel provoziert und macht Wahlkampf. Wo bleibt die Stimme der Vernunft?
Ausgabe 28/2016
Die Rigae Straße 94 ist laut Innensenator Henkel seit 2015 ein „Gefahrengebiet“
Die Rigae Straße 94 ist laut Innensenator Henkel seit 2015 ein „Gefahrengebiet“

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Vielleicht haben die Bewohner der Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain ihren größten Fehler im Jahr 2014 begangen. 1990 besetzt und 1992 durch Mietverträge legalisiert, wurde das Haus, das ursprünglich jüdische Besitzer hatte, 1998 an die Jewish Claims Conference übertragen und später dann verkauft.

Dem Ansinnen der neuen Eigentümer, Profit mit Mietsteigerungen zu erzielen, machten die Nachfolger der ersten Besetzer in jahrelangem Widerstand einen Strich durch die Rechnung: 2014 waren die Eigentümer zum Verkauf bereit, die Edith-Maryon-Stiftung aus der Schweiz und das Berliner Mietshäusersyndikat hätten Grundstück und Gebäude übernehmen und den Bewohnerinnen für 99 Jahre überlassen können. Letztere aber lehnten ab: „Wir wollen besetzen, nicht besitzen“, schrieben sie auf dem Onlineportal Indymedia. Sie fürchteten, Sanierungs- und Verwaltungsaufgaben würden ihrer politischen Arbeit den Garaus machen: „Wir kämpfen für unsere Ideale, nicht für Zentralheizungen!“ Heute dient die Rigaer 94 als Wahlkampfmunition für den freidrehenden CDU-Innensenator Frank Henkel.

Nun zeigen Medien weltweit die Bilder vom vergangenen Wochenende: Mehr als 3.000 autonome Demonstranten, 1.800 Polizisten. Steinwürfe, Brandsätze, Verletzungen, Festnahmen. Vorhersehbar war die Eskalation, seit Henkel den Kiez um die Rigaer Straße im vergangenen Jahr zum „Gefahrengebiet“ erklärt hatte, um anlasslose Personenkontrollen und ähnliche Schikanen zu ermöglichen. Tatsächlich liegt hier eine der attraktivsten Wohngegenden Berlins: Ständig Menschen auf den Straßen, die von zahlreichen Bäumen gesäumt werden, vielfrequentierte Einzelhändler, eine vom Bezirk bestens organisierte Versorgung mit Kita-Plätzen, kollektiv betriebene Kneipen und nicht zuletzt: bunte Häuser, denen horrende Mietsteigerungen und Neubauprojekte nichts anhaben können, weil sie einst besetzt, dann legalisiert und so dem Markt entzogen wurden.

Seit drei Wochen aber stehen vor dem bunten Haus mit der Nummer 94 graue Absperrgitter und Polizisten. Henkels Strategie zu Ende einer rot-schwarzen Legislaturperiode, die von atemberaubender Planlosigkeit der Regierenden gekennzeichnet war: Die Räumungs- und Umbauabsichten des neuen Eigentümers der Rigaer 94, einer auf den Britischen Jungferninseln registrierten Briefkastenfirma, mit Polizeihundertschaften abzusichern, um die verbliebene Handvoll gewaltbereiter Autonomer zu provozieren. Ein paar besorgt gen Osten blickende CDU-Wähler im Westen der Stadt kann er so für die Wahl in zwei Monaten wohl bei der Stange halten.

Die einzige Stimme der Vernunft ist die der Anwohner: Bei einer Pressekonferenz forderten sie das Ende polizeilicher Dauerpräsenz und einen Runden Tisch mit allen Beteiligten. Gespräche aber lehnt nicht nur Henkel ab, sondern inzwischen auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller von der SPD. Was die Sache nicht leichter macht.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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