Kanzlerin Angela Merkel und Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht haben ja nicht nur das Aufwachsen in Ostdeutschland gemeinsam. An gute alte westdeutsche Zeiten zu erinnern, um für ihre Politik zu werben, das tut die eine wie die andere sehr gern.
Wer als Linker Merkels Rede auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe Ende 2015 lauschte, musste vor Neid erblassen: Sie erzählte ihren Leuten eine anschlussfähige, Zuversicht spendende Geschichte. Land wiederaufgebaut nach 45, die Entscheidung für Freiheit statt Einheit durchgehalten und Letztere mehr oder weniger erfolgreich exekutiert, als sie 89 dann doch kam. Und jetzt soll eine CDU-Kanzlerin von den Flüchtlingen als nächster Herausforderung sagen, dass das nicht zu schaffen ist? So lautete Merkels Geschichte, nach neun Minuten brach sie den tosenden Applaus ab, damit der Parteitag weiterarbeiten konnte. Hätte Sigmar Gabriel solche Sorgen!
Ab in die Zukunft
Merkels Reminiszenzen an die BRD sind so wenig neu, wie es die Wagenknechts sind. Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft ließ sie schon 2012 in Freiheit statt Kapitalismus hochleben. In ihrem neuen Buch Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten geht die promovierte Volkswirtin einen erfreulichen Schritt weiter: Die Hälfte der knapp 300 Seiten besteht aus einem so progressiven wie konkreten Blick in die Zukunft. Eben das markiert den Unterschied zu Merkel.
Wagenknecht prangert nicht nur die alltägliche Ungeheuerlichkeit an, dass sich demokratische Staaten privaten Märkten unterwerfen müssen. Sie zeigt unaufgeregt, warum Staatsfinanzierung durch Zentralbanken keineswegs des Teufels sein muss. Ihre zentrale Botschaft: „Geld kostet nichts. Geld ist Kaufkraft, und letztlich kann eine Gesellschaft entscheiden, wofür sie Kaufkraft bereitstellen will und wofür nicht.“
Und wie macht eine Gesellschaft das? Nicht einfach indem sie privaten Banken per Vollgeld-Reform die Möglichkeit zur grenzenlosen Geldschöpfung entreißt. Geld ist ein öffentliches Gut, darum gehöre die Geldversorgung der Wirtschaft „in die Hand gemeinwohlorientierter Institute, die in öffentlichem Auftrag arbeiten und strengen Regeln unterliegen“, nur regional – in Form weniger Filialen auch national – agieren und die Zentralbank als letzten Kreditgeber im Rücken haben, im Unterschied zu Privatbanken, die es in die Weiten des freien Marktes zu entlassen gelte.
Das Überraschendste daran ist nicht, dass Wagenknecht auf unorthodoxe und unparteiische Vordenker wie den Gemeinwohlökonomen Christian Felber zurückgreift. Ausgerechnet von der in linken Kreisen arg verruchten Digitalwirtschaft will sie Leser und Staat lernen lassen: Wenn ein Wagniskapitalgeber in zehn Start-ups investiert und dabei Profit macht, obwohl neun der zehn floppen, warum sollten wir dann bei jedem einzelnen Fehlschlag staatlicher Investitionen laut aufheulen müssen über Verschwendung und Ineffizienz der öffentlichen Hand? Zumal es die meisten Innovationen gar nicht gäbe, hätte ihnen nicht staatlich finanzierte Forschung den Boden bereitet. Wagenknecht, das steht fest, hat ihre Mariana Mazzucato gründlich gelesen (siehe Seite 20).
Dass freilich die digitale Ökonomie heute kein Abbild einer nachhaltigen Wirtschaftsform für morgen ist, macht Wagenknecht mit Blick auf die jeden Wettbewerb sabotierenden Monopolbildungstendenzen von Google & Co. klar. Aufstrebenden Konkurrenten sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen, etwa per Übernahme, unter Ausnutzung der geltenden Patentgesetze oder mit gnadenlosem Ausspielen der Marktmacht gegenüber Zulieferern, das ist längst Wesensmerkmal vieler Branchen, ob es um Lebensmittel, Turnschuhe, Autos oder Handyverträge geht: Die Vielfalt an Anbietern mit nennenswerten Marktanteilen ist übersichtlich. Systemimmanentes Ziel dieser Oligarchien sind leistungslose Einkommen bei begrenzter Haftung, nicht gesellschaftlich wertvolle Innovationen. Darum ist die fortschreitende Automatisierung von Arbeit eine Gefahr und leider nicht die Chance, die eigentlich darin besteht, dass Maschinen und Algorithmen Mühen abnehmen und wir nur noch vier, fünf Stunden am Tag arbeiten müssten: Es wäre Zeit in Hülle und Fülle, schreibt Wagenknecht, „für unsere Lieben und unsere Freunde, für die Lektüre guter Bücher oder den Besuch schöner Konzerte, fürs Joggen, Radfahren und Fußballspielen oder einfach, um auf einer Wiese in der Sonne zu liegen und dem Gesang der Vögel und dem Brummen einer dicken Hummel zuzuhören“.
Viel besser als Fratzscher
Da klingt die Fraktionschefin plötzlich wie ihre Parteichefin. Bei Katja Kipping abzukupfern, um deren postwachstumsaffine, junge Klientel mitzunehmen – ein guter Zug. Allerdings wächst jene Klientel in supranationalem Selbstverständnis auf, das es ihr schwer machen dürfte, die eine Überzeugung Wagenknechts zu teilen, ihre Gegenthese zu Friedrich August von Hayeks Doktrin von der marktkonformen Demokratie via Souveränitätsabbau à la EU oder TTIP: Vor dem Kapitalismus könne man sich nur auf nationalstaatlicher Ebene und nicht über EU oder Euro retten. Das bringt ihr den Beifall konservativer Senioren wie Peter Gauweiler und Hans-Werner Sinn ein. Aber junge Linke? Nun, die hätten wiederum wohl nichts dagegen, würde erst mal nur die deutsche Volkswirtschaft durch die vier Eigentumsformen geprägt, die Wagenknecht vorschlägt: Personengesellschaft mit Haftung, Mitarbeiter-, öffentliche und Gemeinwohlgesellschaft.
So ist all das ein weit größerer Wurf als das hoch gehandelte neue Buch Marcel Fratzschers. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung traut sich in Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird (Hanser 2016, 264 S., 19,90 €) nicht einmal, Alternativen zur absehbar wirkungslosen Reform der Erbschaftsteuer durch Schwarz-Rot zu benennen. Womit die ärmere Hälfte der Bevölkerung mehr in Aktien und Immobilien investieren soll, um Vermögen zu bilden, bleibt nebulös. Die größte Kontroverse löste Fratzscher unter deutschen Ökonomen aus. Sie bestreiten fassungslos seine These, Ungleichheit reduziere Wachstum.
Info
Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten Sahra Wagenknecht Campus 2016, 292 S., 19,95 €
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