„Ich verstehe das Dilemma“

Interview Der US-Ökonom Joseph Stiglitz über das TTIP-Abkommen und Griechenlands Chancen in der Europäischen Union
Ausgabe 38/2015
Joseph Stiglitz würde die Eurogruppe gern mit 18 Wirtschaftswissenschaftlern besetzen. Natürlich nur mit guten wie er selbst
Joseph Stiglitz würde die Eurogruppe gern mit 18 Wirtschaftswissenschaftlern besetzen. Natürlich nur mit guten wie er selbst

Foto: Jen Osborne für der Freitag

Joseph Eugene Stiglitz ist an diesem Sonntag gerade aus New York eingeflogen, als er sich auf einem Caféstuhl in Berlin-Mitte niederlässt, um das erste Interview zu geben. Alle Veranstaltungen, die er während seines Besuchs in Deutschland absolviert, waren innerhalb kürzester Zeit restlos ausgebucht: Stiglitz war Wirtschaftsnobelpreisträger 2001, er hat US-Präsident Bill Clinton beraten und trat einst aus Protest gegen den Kurs der Weltbank als deren Chefökonom zurück. Heute gilt er als einer der prominentesten Kritiker der Austeritätspolitik und des Freihandels.

der Freitag: Herr Stiglitz, hier in Berlin werden in wenigen Wochen Tausende gegen das geplante TTIP-Abkommen demonstrieren. Würden Sie da mitlaufen?

Joseph Stiglitz: Auf jeden Fall. Aber es gibt nicht nur die Proteste, es gibt auch viele Menschen, die immer noch nicht realisiert haben, wie verheerend dieses Abkommen wäre. Es ist etwas ganz anderes als frühere Freihandelsverträge.

Inwiefern anders?

Früher ging es darum, Zölle zu senken und Produkte für Verbraucher günstiger zu machen, den Wettbewerb zu forcieren. Heute sind die Zölle, gerade zwischen den USA und Europa, sehr niedrig. Bei TTIP und auch bei der transpazifischen Partnerschaft TPP geht es eigentlich nicht um Handel.

Worum dann?

Zum einen um geistige Eigentumsrechte. Die Pharmaindustrie versucht gezielt, günstige Generika vom Markt zu verdrängen. Zum anderen geht es um den Investitionsschutz. Ich verstehe nicht, wie eine Regierung diese Regelungen unterstützen kann. Ich muss da immer an Asbest denken.

Wie bitte?

Ja, früher wussten wir nicht, dass Asbest gefährlich ist. Dann entdeckten wir, dass es tötet. Heute müssen Asbesthersteller die Leute entschädigen, deren Leben sie zerstört haben. Der Logik des Investitionsschutzes in TTIP nach sollen wir nun Asbesthersteller dafür entschädigen, dass sie niemanden mehr töten. Wir sollen ihnen zu Profiten verhelfen, die sie erzielt hätten, wäre es weiter erlaubt gewesen, Menschen umzubringen.

zur person

Joseph E. Stiglitz, 72, hat am MIT, in Princeton, Stanford und Oxford gelehrt. Heute ist er Professor an der Columbia University in New York und Mitbegründer des Institute for New Economic Thinking. Sein neues Buch Die innovative Gesellschaft erscheint am 9. Oktober

Ohne TTIP könnte Europa abgehängt werden, fürchten Wirtschaftsvertreter in Deutschland – wegen TPP etwa und der damit verbundenen Kooperation der USA mit asiatischen Ländern.

Das ist Unsinn. Obwohl ich TPP für ein sehr schlechtes Abkommen halte, wären die dadurch stimulierten Handelsvolumina sehr klein. Und außerdem kann die Forschung nicht nachweisen, dass Freihandel Wachstum bringt. Im Gegenteil: Wenn der Markt nicht funktioniert, dann werden Jobs schneller zerstört, als dass man neue schaffen kann. Und um den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft in den USA steht es nicht sehr gut.

Die in Europa gängige Lesart ist eine andere. Viele sagen: Seht, wie gut die USA heute die Krise überwunden haben, die Wirtschaft dort wächst und dem Arbeitsmarkt geht es gut.

Unsere Wirtschaft ist nicht sehr gesund. Sie wirkt höchstens so, wenn man sie mit der wirklich sehr kranken europäischen Wirtschaft vergleicht. Die Arbeitsmarktzahlen sind ein Trugschluss.

Die Arbeitslosenquote liegt doch nur knapp über fünf Prozent.

Entscheidend ist die Erwerbs-, nicht die Arbeitslosenquote. Man muss die Leute einbeziehen, die unfreiwillig in Teilzeit arbeiten, und diejenigen, die aus der Erwerbsstatistik herausgefallen sind, weil es für sie einfach keine Jobs gibt. Wenn man sich ansieht, wie groß der Prozentsatz der erwerbsfähigen Bevölkerung ist, die Arbeit hat, dann befindet der sich in den USA auf einem historischen Tiefstand. Und das nicht, weil die Leute aufgehört haben zu arbeiten, um Freizeit zu genießen. Zudem ist das mittlere Einkommen heute niedriger als vor 25 Jahren. Nein, es geht uns nicht sehr gut. Zwar wächst die Wirtschaft wieder, aber das kommt nur dem oberen einen Prozent zugute.

Sie machen die US-Zentralbank Fed mitverantwortlich für die wachsende Ungleichheit.

In jeder Rezession brechen die Löhne ein. Wenn es dann in der Vergangenheit so aussah, als würden sie sich erholen, dann hat die Fed das stets durch ihre Zinspolitik abgewürgt. Und natürlich kommt die lockere Geldpolitik nur reichen Aktienbesitzern zugute. Da hofft man wie eh und je, dass der Wohlstand dann irgendwann zu den unteren Schichten durchsickert. Natürlich vergeblich.

Irgendwann muss die Fed ihren Leitzins ja wieder anheben. Wann wäre der richtige Zeitpunkt?

Jetzt sicher nicht. Wenn die Wirtschaft plötzlich wieder auf breiter Basis wächst und wir einen angespannten Arbeitsmarkt haben, kann man den Leitzins immer noch anheben. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering.

Im Westen machen sich viele auch Sorgen wegen China.

Ja, wir haben weltweit eine zu schwache Nachfrage und das liegt auch an der Entwicklung in China. Aber die dortige Regierung hat auch die Asian Infrastructure Investment Bank gegründet, für Investitionen in die Infrastruktur Asiens. China recycelt so einige seiner Überschüsse und stärkt damit die globale Nachfrage. Es kümmert sich also nicht nur um sich selbst. Wie Sie wissen, erwirtschaftet Deutschland größere Überschüsse als China. Deutschland wird immerhin Mitglied dieser Bank, wie einige andere westliche Staaten, gegen den ausdrücklichen Widerspruch aus Washington.

Ja, aber Deutschland setzt seine Überschüsse nicht annähernd so umfangreich wie China zur Stärkung der globalen Nachfrage ein. Stattdessen schwächt es mit der maßgeblich von ihr verordneten Austeritätspolitik seine Nachbarn. Deutschland schadet mit dieser Politik nicht nur der EU, sondern auch der gesamten Weltwirtschaft.

Sie waren im Juli zuletzt in Athen. Spielt es zurzeit noch irgendeine Rolle, wer in Griechenland regiert, nachdem Tsipras die Reformauflagen der Eurozone akzeptiert hat?

Es ist jedenfalls sonnenklar, dass das mit der Troika vereinbarte Reformprogramm die Rezession in dem Land weiter verschärfen wird.

Finanzminister Wolfgang Schäuble würde Ihnen sagen: Schauen Sie doch nach Spanien, Portugal oder Irland: Dort ist das Wachstum zurück, der Arbeitsmarkt erholt sich.

Das ist eine sehr verzerrte Sichtweise. Das ist ungefähr so, als wenn jemand aus dem 20. Stockwerk fällt und Sie nach dem Aufprall auf den Boden sagen: Ein Glück, dass er nicht noch tiefer gefallen ist. Die Wahrheit sieht anders aus: Das Bruttosozialprodukt ist in diesen Ländern viel niedriger als vor der Finanzkrise, das Wachstumspotenzial ebenso. Junge, qualifizierte Menschen sind ausgewandert und werden nicht zurückkommen. Natürlich ist eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent besser als eine von 60 Prozent. Aber beides ist immer noch eine massive Verschwendung von Ressourcen, von der sozialen Dimension einmal ganz abgesehen. Kinder leiden an Mangelernährung, die Gesundheits- und Bildungssysteme sind marode.

Meinen Sie wirklich, ein Staatsbankrott und das Ausscheiden aus der Eurozone wären eine vernünftige Alternative für Griechenland gewesen?

Ja, ganz sicher. Das wäre in einer geordneten Weise möglich gewesen, ohne schlimme Auswirkungen für die Griechen.

Für ein Land, das einen Großteil seiner Energie und Lebensmittel importiert?

Wenn man sich Griechenlands Leistungsbilanzüberschuss Anfang des Jahres ansieht, dann erkennt man schnell: Die Überschüsse aus Tourismus und Schifffahrt hätten gereicht, um die notwendigen Importe zu bezahlen. Natürlich sind solche Dinge immer sehr fragil. Touristen können sich plötzlich ein anderes Reiseziel suchen, der Ölpreis kann steigen. Es wäre sicher nicht einfach gewesen. Aber man hätte es schaffen können, so wie es einst auch Argentinien bewältigt hat.

Der einstige Finanzminister Yanis Varoufakis würde Ihnen da zustimmen, Alexis Tsipras nicht.

Ich habe beide getroffen, und ich verstehe Tsipras’ Dilemma. Als Regierungschef muss er reflektieren, was die Bevölkerung will. Sie will den Euro behalten und ein Ende der Austeritätspolitik. Syriza hat geglaubt, den Rest der Eurogruppe davon überzeugen zu können – nicht zuletzt, weil die meisten guten Ökonomen sagen, dass die Sparpolitik in den Ruin führt. Würde die Eurogruppe nur aus Ökonomen bestehen, hätte es vermutlich geklappt. Aber die Welt ist nun mal eine andere. Nur sage ich Ihnen: Ohne einen Schuldenschnitt wird es nicht gehen.

Einige deutsche Ökonomen und Politiker würden Ihnen wohl widersprechen, was mit Blick auf Griechenland gut und vernünftig ist. Wie optimistisch sind Sie, dass Ihre Argumente in Deutschland überzeugen?

Ja, ich weiß, das wird sehr schwierig. Aber die Situation ist nach wie vor angespannt, und es wäre wirklich an der Zeit, sich dem zu stellen, was das wirkliche Problem der Europäischen Union ist: zu wenig Integration und die mangelhafte Architektur der Eurozone.

Das Gespräch führten Sebastian Puschner und Lukas Latz

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner, Lukas Latz | Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, Steuer- und Haushaltsfragen von Hartz IV bis Cum-Ex und Ideen für eine enkeltaugliche Wirtschaft.

Sebastian Puschner

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