Im Auftrag eines Briefkastens

Berlin Die von CDU-Innensenator gestützte Teilräumung der Rigaer Straße 94 im Bezirk Friedrichshain war illegal. Das ist bezeichnend für die Polit-Missstände in der Hauptstadt
Im Auftrag eines Briefkastens

Foto: Sean Gallup/AGP/Getty Images

"Stadtpolitik" – dieses Wort traut man sich seines automatisch progressiven Anklangs wegen in Bezug auf Berlin gar nicht mehr zu benutzen. Bleiben wir also bei der förderalistisch korrekten Bezeichnung "Landespolitik", um auf die jüngsten Ereignisse rund um den rot-schwarzen Senat des Bundeslandes – oder, ja: Stadtstaates – einzugehen.

Es kann nicht noch schlimmer kommen, diesen Gedanken straft die Berliner Landespolitik in atemberaubender Geschwindigkeit ein ums andere Mal Lügen. Die seit 2011 vermeintlich "regierende" Koalition aus SPD und CDU verdankt ihre Existenz nichts anderem als der strikten Weigerung des inzwischen – immerhin! – zurückgetretenen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit, mit dem potentiellen grünen Koalitionspartner auch nur ansatzweise über den ökologischen und verkehrspolitischen Irrsinn der Verlängerung der Stadtautobahn A 100 durch diverse Wohn- und Naherholungsgebiete zu diskutieren. Allein, dass es so schlimm hätte kommen können wie in den vergangenen fünf Jahren, das hätten beim letzten Urnengang 2011 wohl nicht einmal die größten Pessimisten geahnt.

Von BER bis Lageso

Die unendliche Geschichte um den Versuch eines Flughafenneubaus ohne jeden erkennbaren Ansatz, den Problemfall BER zu lösen. Das monatelange Debakel rund um die in der Stadt angekommenden Flüchtlinge, das seinen Tiefpunkt in den menschenunwürdigen Zuständen rund um das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) erreichte. Die Affäre um einen Ex-SPD-Staatssekretär, dem seine Partei einen gutdotierten Posten im Rahmen des "Masterplans Integration" zuschanzen wollte. Das weitestgehende Versagen beim Versuch, in Berlin die Energienetze zu kommunalisieren und ein Stadtwerk als Motor der Energiewende zu installieren. Die im Zuge des hierzu angestrengten und nur ganz knapp gescheiterten Volksentscheids schonungslos offenbarte energiepolitische Inkompetenz, die SPD und CDU aber nicht am Versuch hinderte, den Initiatoren mit fragwürdigen Methoden wie der Gründung eines Alibi-Stadtwerkes ohne jeden Wirkungsradius den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Überhaupt, wenn in den letzten Jahren von irgendwoher in Berlin ein Versuch unternommen wurde, progressive, zukunftsfähige, visionäre Politik durchzusetzen, dann aus der Opposition oder, noch vielmehr, aus der überaus regen und vielfältigen Landschaft außerparlamentarischer sozialer Bewegungen. Die jüngsten Fortschritte in der Mietenpolitik, dem alles überragenden Thema der Stadt, gehen voll und ganz auf ein Volksbegehren zurück, dessen Gesetzentwurf die Koalition teils übernahm, um so die Initiative dazu zu bringen, ihre Kampagne vorerst auf Eis zu legen.

Ein Haus als Munition

Solche Abfangmanöver haben beim wohnungspolitischen Thema der Stunde, dem Streit um das 1990 besetzte Haus Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain und die letzten Reste gewaltbereiter Autonomer in seinem Dunstkreis, keine Aussicht auf Erfolg. Sie entsprächen auch gar nicht dem Interesse des amtierenden Innensenators und CDU-Landeschefs Frank Henkel. Ihm dient die Rigaer 94 rein als Wahlkampfmunition. Henkels Provokationen dauern seit dem vergangenen Jahr an, als er die Gegend rund um die Rigaer Straße in Ost-Berlin – einen der schönsten, friedlichsten und angenehmsten Kieze der Stadt – zum "Gefahrengebiet" erklären ließ, um anlasslose Personenkontrollen, Absperrung des in Rede stehenden Hauses mit Gittern und Polizeibeamten und ähnliche Schikanen zu erleichtern.

Die Rechnung ging auf: Weltweit zeigten Medien die Bilder der Solidaritäts-Demonstration am vergangenen Wochenende, mehr als 3.000 autonome, vielfach von außerhalb Berlins angereiste Demonstranten, 1.800 Polizisten. Steinwürfe, Brandsätze, Verletzungen, Festnahmen. Ein paar besorgt gen Osten blickende CDU-Wähler im Westen der Stadt kann Henkel so, trotz bester Umfragewerte für die AfD, für die Abgeordnetenhauswahl in zwei Monaten wohl bei der Stange halten. So der Urnengang denn stattfinden kann – heftige Probleme mit dem Meldewesen in überlasteten Ämtern und mit der IT gefährden dies, kein Witz!

Keine Chaos-Brutstätte

So entsandte Henkel Ende Juni Polizeitrupps in die Rigaer Straße, um dort Bauarbeiten und Räumungswünsche des privaten Hauseigentümer, einer auf den Britischen Jungferninseln registrierten Briefkastenfirma, durchzusetzen. Diese Eskalation auf Staatskosten wäre allein schon schlimm genug. Doch, wie gesagt, in Berlin geht es immer noch eine Spur schlimmer. An diesem Mittwoch entschied das Landgericht Berlin: Die Teilräumung war illegal. Der Hauseigentümer hatte gar keinen Räumungstitel, der aber Voraussetzung für eine polizeilich gestützte Aktion wie jene Ende Juni gewesen wäre. Noch am Mittwoch wollen die Bewohnenden, Nachfolger der Besetzer von 1990, die Räume mithilfe eines Gerichtsvollziehers wieder in Beschlag nehmen, darunter ihre Kneipe Kadterschmiede.

Ohne rechtliche Grundlage also hat der Innensenator auf Staatskosten die Anliegen einer Briefkastenfirma durchsetzen lassen – und mit der andauernden Belagerung des Kiezes durch Polizeifahrzeuge, -gitter und -beamte billigend die Drangsalierung nicht nur von vermeintlichen linksautonomen Aktivisten, sondern ebenso von unbeteiligten Anwohnern in Kauf genommen.

Ein Zusammenschluss von Anwohnenden hatte sich am Dienstag mit einer Pressekonferenz gegen die den Kiez als Chaos-Brutstätte diffamierende Berichterstattung etlicher Medien, vor allem aber die von Henkel verordnete pausenlose Polizeipräsenz in ihrer Nachbarschaft gewehrt und einen Runden Tisch mit allen Beteiligten gefordert. Gespräche zur Deeskalation aber lehnt Henkel ab.

Bewusste Aufkündigung des sozialen Friedens, rechtswidrige Polizeiaktionen, Gefährdung einer Landtagswahl durch organisatorische Verfehlungen – es sind beileibe schon Minister und Senatoren wegen weniger zurückgetreten oder aus dem Amt gedrängt worden. Das war dann meist aber außerhalb des Landes Berlin.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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