In dieser Form verzichtbar

Verfassungsschutz Die Debatte über die Personalie Hans-Georg Maaßen greift zu kurz. Es muss um die Behörde gehen, die er leitet
Hans-Georg Maaßen ist als BfV-Präsident nicht länger haltbar
Hans-Georg Maaßen ist als BfV-Präsident nicht länger haltbar

Foto: imago/IPON

Spätestens als im Schulunterricht der Nationalsozialismus das Thema war, drängte sich diese Frage auf: Kann so etwas in Deutschland wieder geschehen? Oder vielmehr: Wie, in welcher Form und unter welchen Umständen kann ein Zivilisationsbruch diesen Ausmaßes wieder geschehen? Und wie lässt sich das verhindern?

Die Gegenwart weist so manche Parallele und viele Unterschiede zu den 1920er Jahren auf. Doch unabhängig davon gibt es Fragen, auf die man Antworten erwarten könnte – etwa vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Wie weit ist die Vernetzung rechtspopulistischer, neonazistischer, womöglich rechtsterroristischer Akteure im Land fortgeschritten? Wie genau organisieren sich diese Akteure, um nicht nur in kürzester Zeit aus dem ganzen Bundesgebiet in eine Stadt wie Chemnitz anzureisen und auf die Straße zu gehen, sondern dort auch eine nennenswerte Zahl von Menschen, die noch nicht in rechten Zusammenhängen organisiert sind, zu mobilisieren? Welche Rolle spielt dabei die AfD? Welche Strategien von Solidarisierung und Distanzierung nutzt sie?

BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen findet derweil andere Fragen wichtiger. Die etwa, ob der Begriff "Hetzjagd" adäquat beschreibt, was in Chemnitz vor sich ging. Ob es gut oder schlecht war, dass Medien jenes in Rede stehende Video verbreiteten, das ein Twitter-Account mit dem Namen "Antifa Zeckenbiss" auf die Plattform gehievt hatte.

Wen diese Priorisierung der Fragen überrascht, der hat dem Agieren des Verfassungsschutzes in Deutschland in der Vergangenheit wohl nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der NSU-Komplex steht pars pro toto, was die skandalöse Rolle deutscher Geheimdienste in Bezug auf rechte Gewalt angeht.

„Mediennutzung von Linksextremisten“

Auf all jene Fragen nach Strukturen und Potentialen rechter Akteure gibt es heute durchaus Antworten – über den „Versuch der Einflussnahme von Rechtsextremisten auf Anti-Asyl-Kundgebungen des demokratischen Spektrums“ informiert das BfV auf seiner Internetseite in einem Beitrag aus dem vergangenen April, unter aktuelleren Meldungen zu „Neue Jihad-Generation? Dynamiken in der jihadistischen Sozialisation in Deutschland“, „'Antigentrifizierung' – Wohnraumproblematik im Spannungsfeld zwischen zivilgesellschaftlichem Protest und linksextremistischer Agitation“, „Jihadistische Sozialisation – Was passiert in jihadistischen Familien in Deutschland?“ und – der jüngste Beitrag, vom 31. August – „Gewalttäter als Opfer? – Mediennutzung von Linksextremisten“.

Nur: Informationen über Rechtsextremisten, das mutmaßlich demokratische Spektrum und Einflussnahme gibt es sehr viel ausführlicher von Seiten zivilgesellschaftlicher Akteure, Journalisten und fachkundigen Parlamentarierinnen. Sie sind es, die sich nach Ereignissen wie denen in Chemnitz vor Anfragen aus Redaktionen kaum retten können, die ihre Kentnisse aus Vor-Ort-Beobachtungen und Internet-Auswertungen öffentlich machen und damit Grundlagen für den öffentlichen Diskurs schaffen. Hätten die sächsischen Behörden frühe Warnungen von genau solchen Akteuren ernst genommen – die Polizei hätte in Chemnitz zu Beginn der Eruptionen nicht in Unterzahl sein müssen.

Natürlich ist Hans-Georg Maaßen als BfV-Präsident nicht länger haltbar. Er hat in der Bild von Manipulationen geraunt, für die er Belege bis heute schuldig geblieben ist. Er flüchtet sich nun in Ausreden, sei falsch verstanden worden, habe ja nur Medien- und Diskurs-Kritik üben wollen. Als ob dies seine Aufgabe wäre. Maaßen sieht sich darüber hinaus Vorwürfen bezüglich seines Umgangs mit der AfD und mit dem Attentäter Anis Amri im Vorfeld von dessen Anschlag auf den Breitzscheidplatz in Berlin gegenüber, ohne diese bisher entkräftet zu haben. Sein Abgang aber ist keineswegs ausgemacht. Das wiederum zeigt, wie begrenzt der Aktionsradius der Bundeskanzlerin gegenüber ihrem Innenminister Horst Seehofer, der bisher fest zu Maaßen hält, ist.

Doch die Personalie Maaßen ist nur eine Dimension. Die andere wäre die Verzichtbarkeit eines Bundesamtes für Verfassungsschutz in seiner heutigen Form. Eine Grundlage für die entsprechende Debatte gäbe es in Form eines Antrags der Linksfraktion in Hessen aus dem Jahr 2012 auch schon.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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