Ist das wirklich alternativlos?

Contra Der Impfstoff für Kinder ist im Anflug. Doch sollte man sie überhaupt impfen? Unsere Redaktion ist gespalten, Sebastian Puschner argumentiert dagegen
Ausgabe 19/2021
Kinder zu impfen hat mit medizinischen Fakten nicht viel zu tun
Kinder zu impfen hat mit medizinischen Fakten nicht viel zu tun

Foto: Fred Morley/Getty Images

So elendig lange diese Pandemie dauert, so rasend schnell ändern sich manche Gebote zu ihrer Überwindung. So war es bei den Masken, deren Alltagsgebrauch etwa der Chef des Robert-Koch-Instituts im einen Moment noch für kontraproduktiv hielt und der im nächsten Moment zur unerlässlichen Notwendigkeit erklärt wurde. So ähnlich ist es nun mit dem Impfen von Kindern gegen Corona: Plötzlich scheint das alternativlos, absolut geboten, alles geht jetzt unheimlich schnell: Mit zehn Millionen Dosen Biontech sollen bis zum Ende der Sommerferien zunächst alle 12- bis 18-Jährigen gespritzt werden, der Pharmakonzern Pfizer hat schon ein Unbedenklichkeitsgutachten vorgelegt; und in Bezug auf die Jüngeren hat Bundeskanzlerin Angela Merkel längst den angstmachenden Unterton gesetzt, indem sie den Grundschul-Regelbetrieb mit ungeimpften Kindern von Herbst an als „schwierige Situation“ bezeichnete.

Kann sich noch wer erinnern, was bis vor Kurzem als goldene Regel galt? Dass die Jüngeren sich zurücknehmen müssen, um die Älteren und Verletzlichen zu schützen. Nun sind die Älteren und Verletzlichen weitgehend geimpft, aber junge Menschen dürfen weiter nicht in die Schule gehen, obwohl der dadurch fehlende direkte soziale Kontakt viele von ihnen krank macht. In Schulen gilt eine De-facto-Testpflicht, am Arbeitsplatz nicht – die so logischerweise höhere Inzidenz unter den Jüngeren sorgt für irreführende „Virenschleuder-Schule“-Schlagzeilen. So bereitet man das Feld für die Vorstellung, ein Schulbetrieb ohne Impfung der Schüler sei brandgefährlich.

Mir scheint, das hat mit den medizinischen Fakten nicht viel zu tun. Die Münchner Virenwächter-Studie kommt zum klaren Schluss, dass „Kinder, die in Krippen, Kindergärten oder Schulen gehen, nicht signifikant zur Ausbreitung der Pandemie beitragen, wenn geeignete Maßnahmen der Infektionskontrolle gelten“. Während manche von Angst zerfressene Zeitgenossin redet, als wäre eine Kinder-Long-Covid-Welle über uns hereingebrochen, sagt die Virologin Sandra Ciesek: „Ich glaube, dass es so nicht zu beantworten ist, ob es Long Covid bei Kindern gibt und wie häufig es das gibt.“ Der US-Medizinprofessor Vinay Prasad schreibt: „Das Risiko, an COVID-19 zu sterben, ist bei Kindern und Jugendlichen unglaublich gering. Im Jahr 2020 lag die Chance, dass ein Kind im Alter von 5 bis 14 Jahren an COVID-19 stirbt, bei eins zu einer Million. Zum Vergleich: In einem normalen Jahr ist das Risiko, dass ein Kind in der gleichen Altersgruppe Selbstmord begeht, zehnmal höher.“

In einem normalen Jahr – dass diese Zahl in der Zeit einer Kindern gegenüber völlig rücksichtslosen Pandemiepolitik gestiegen ist, steht angesichts eines um 60 Prozent erhöhten Anfrageaufkommens bei Jugendtherapeuten (der Freitag 17/2021) zu befürchten.

Statt dass sich die Politik um diesen seelischen Notstand kümmert, stellt sie „Schule mit einem ganz anderen Sicherheitsfeeling“ (Markus Söder, CSU) in Aussicht – dank Massenimpfungen Minderjähriger ohne Vorerkrankungen mit einem Stoff, dessen Langzeitwirkungen gar nicht erforscht sein können.

Ich halte das Impfen allgemein für einen zivilisatorischen Fortschritt, meine eigenen Kinder sind gegen alles Gängige immunisiert. Doch dass eine Corona-Impfung für sie Sinn ergibt, erschließt sich mir nicht – es geht da wohl tatsächlich nur um ein „Feeling“ und um das politische Spiel mit der Angst. Ich bin ganz bei Martin Terhardt, Arzt und Mitglied in der Ständigen Impfkommission, der sich wünscht, „dass die Politik und auch die Medienlandschaft ein bisschen zurückhaltender damit umgehen, weil wir das noch nicht gut genug wissen.“

Info

Lesen Sie hier die Widerrede von Katharina Schmitz

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden