Kampf ums Geld

Investieren Deutschland fährt auf Verschleiß. Und leistet sich trotzdem einen fragwürdigen Wahlkampf um angebliche Steuerlasten
Ausgabe 22/2017
Sollen die Steuerüberschüsse für Investitionen in die Infrastruktur und den öffentlichen Dienst benutzt werden?
Sollen die Steuerüberschüsse für Investitionen in die Infrastruktur und den öffentlichen Dienst benutzt werden?

Illustration: der Freitag; Material: Artfocus/Fotolia

Noch im vergangenen Jahr war das Schlimmste zu befürchten für diesen Bundestagswahlkampf: Die AfD feierte ein Umfragehoch nach dem nächsten, und die angebliche Flüchtlingskrise überstrahlte alle anderen Themen.

Jetzt sind es keine vier Monate mehr bis zur Wahl, Millionenausgaben für Unterbringung und Integration der Geflüchteten haben der Konjunktur Auftrieb gegeben, die Beschäftigung ist hoch wie seit langem nicht, das Lohnniveau steigt – und das Land der Haushaltsüberschüsse leistet sich einen Steuerwahlkampf.

Das mag vor Schlimmerem bewahren. Statt um das Schießen auf Flüchtlinge an der Grenze geht es um das Abschmelzen des Mittelstandsbauchs bei der Einkommensteuer, immerhin. Doch statt dass darüber gestritten wird, wie die riesigen Überschüsse zu Investitionen werden können, um von Deutschland aus einen Neustart für Europa zu unterstützen, entfaltet sich ein zweifelhafter Mehr-Brutto-vom-Netto-Kampf um das Verpulvern der Finanzpolster.

Zweifelhaft deshalb, weil die am lautesten nach Entlastung Rufenden mit Trugbildern argumentieren. „Je alarmistischer Darstellungen daherkommen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wesentliche Größen nicht sauber voneinander abgegrenzt werden“, schreibt die Finanzpolitik-Expertin des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Katja Rietzler. Durchschnittliche Einkommen würden überschätzt, der Unterschied zwischen Brutto- und zu versteuerndem Einkommen vernachlässigt und der Durchschnitts- mit dem Grenzsteuersatz durcheinandergebracht.

Besser: „Umverteilung“

Heraus kommen Bilder von Millionen Krankenschwestern und Facharbeitern, die unter dem Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf ihr gesamtes Einkommen ächzen. Tatsächlich zahlen die 4,2 Millionen Bürger, die mit dem Spitzensteuersatz in Berührung kommen, diesen nur auf den Teil ihres Bruttoeinkommens, der eine bestimmte Grenze überschreitet – bei einem kinderlosen Single liegt diese bei knapp 64.000 Euro. Und tatsächlich ist die Belastung durch die Einkommensteuer für Durchschnittsverdiener ziemlich moderat. Wer den Jahresbruttoverdienst von 49.915 Euro einstreicht, zahlt laut IMK etwa 19,2 Prozent Einkommenssteuer, 9.589 Euro. Bei einem kinderlosen Ehepaar sind es 11,1 Prozent (5.562 Euro), ein Durchschnittsverdiener-Ehepaar mit zwei Kindern zahlt sogar nur 1,4 Prozent Einkommensteuer, 696 Euro.

Anlass für Entlastung oder, noch besser, „Umverteilung“ gibt es durchaus. Aber dass die Einkommensteuer dafür nicht der beste Ansatzpunkt ist, zeigt ein Blick auf das derzeit berühmteste Schaubild des deutschen Steuern-und-Abgaben-Systems, den „Wal in der Badewanne“. Erstellt haben es Forscher vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, dem gern von der SPD beauftragten Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der FU Berlin: Träge hebt sich der die Steuer- und Abgabenlast symbolisierende Wal aus der in Einkommensdezile untergliederten Wanne. „Die Steuerbelastung ist insgesamt doch erstaunlich gleichmäßig und nur wenig progressiv“, sagt DIW-Steuerexperte Stefan Bach dazu. „Nur wenig progressiv“, das heißt: Der Grundsatz, je höher das Einkommen, desto höher prozentual die Belastung – er ist in Deutschland nicht sehr ausgeprägt.

Dass Bezieher niedrigster Einkommen mitunter 20 bis 30 Prozent davon abführen müssen, liegt vor allem an der Mehrwertsteuer, die sie überproportional hart trifft. Die Mitte wiederum trägt schwer an Sozialabgaben, während die Beitragsbemessungsgrenze diese für Einkommensstarke deckelt. Das oberste Zehntel bestreitet dafür knapp die Hälfte des gesamten Einkommensteueraufkommens. Gerade diese Steuer ist noch mit die progressivste: Wer mehr bekommt, zahlt mehr.

Und wer mehr bekommt, wird stärker entlastet. „Wenn wir den Einkommensteuertarif auf breiter Front herunternehmen, also diesen Mittelstandsbauch abschmelzen, dann heißt das, dass natürlich alle Steuerpflichtigen entlastet werden und auch die reichen Steuerpflichtigen mit den hohen Steuerbelastungen davon profitieren“, sagt DIW-Steuerexperte Stefan Bach. Absolut würden sie sogar stärker entlastet als die Mittelschicht. Das führe dazu, „dass von den beträchtlichen Steuerausfällen, die dann entstehen, noch ein erheblicher Teil an die hohen Einkommen geht“.

Diese Ausfälle summieren sich laut DIW-Berechnungen für das Steuermodell von Bayerns CSU-Finanzminister Markus Söder auf neun Milliarden Euro, der Plan der Unions-Mittelstandsvereinigung würde den Staat um 41 Milliarden erleichtern.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz tut gut daran, nicht in diesen Chor der Marktschreier einzustimmen. Investitionen statt Steuergeschenke, das ist seine – richtige – Devise. 41 Milliarden Euro, damit ließe sich der Investitionsrückstand deutscher Kommunen bei Schulen (32,8 Milliarden), Sportstätten und Bädern (9,7 Milliarden) beheben. Oder der Staat beginnt mit seiner Verkehrsinfrastruktur: 34,4 Milliarden Euro Investitionsrückstand laut der gerade von der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) veröffentlichten Befragung deutscher Kommunen.

Die Bundesregierung aber will in dieser Woche einen Teil des Verkehrsnetzes – die Autobahnen – in einer Bundesfernstraßengesellschaft bündeln und damit öffentlich-rechtliche Partnerschaften forcieren: Im Gegensatz zu bisher wären die Länder kaum mehr in der Lage, öffentlich-private Partnerschaften zu stoppen.Das kostet den Staat mehr und beschert Konzernen Profite. Kommt außerdem eines Tages die Maut für alle, worauf von der Berliner Zeitung veröffentlichte Strategiepapiere hinauslaufen, so wird deren Höhe kaum nach Einkommen differenzieren. Sie wird wirken wie die Mehrwertsteuer: Die Ärmsten trifft sie am meisten. Was auch für die Mietsteigerungen in den Städten gilt. Doch während 2016 24.550 neue Sozialwohnungen entstanden, fielen 40.000 bis 50.000 aus der Preisbindung. 80.000 neue pro Jahr wären laut dem Deutschem Mieterbund dagegen dringend nötig.

Betrügerische Abzocke

Auch beim Thema Steuern liegt einiges im Argen: 127.990 Beschäftigte arbeiteten 2004 in den Steuerverwaltungen, 119.315 waren es noch 2014 – ein Aderlass, dessen Ausmaß der gesamten Steuerverwaltung Hessens entspreche, rechnet die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung vor. Und schreibt: „Wenn sich die Entwicklung so fortsetzen würde, gäbe es in wenigen Jahren mehr Steuerberater_innen als Steuerbeamt_innen.“ Die Zahl der Ersteren ist laut Bundessteuerberaterkammer von 61.845 im Jahr 2000 auf 84.046 heute gestiegen.

Einen guten Steuerberater hatte Erwin Müller, Herr über 777 Filialen seiner gleichnamigen Drogeriemarkt-Kette. Das Landgericht Ulm entschied, dass die Schweizer Sarasin-Bank ihm 44,8 Millionen Euro Schadensersatz zahlen muss, weil sie ihn falsch beraten habe. Mit 150 Millionen Euro aus Müllers Vermögen mischte Sarasin beim Cum-Ex-Betrug mit, dem Abzocken mittels unrechtmäßiger Steuererstattungen.

Wichtig wäre es, solche Schlupflöcher gar nicht erst entstehen zu lassen. In manchen Fällen ist das Geld beim Staat immer noch am besten angelegt. 85 Milliarden Euro pro Jahr verspricht sich die Linke von Vermögens- und Erbschaftssteuer. Dahinter steht das bisher umfassendste Steuerkonzept. 30 Milliarden soll eine Finanztransaktionssteuer und 15 Milliarden die Intensivierung des Kampfes gegen Steuerbetrug bringen. Das wäre dringend nötig, denn auch die Linke will eine Einkommensteuerreform zum Preis von 28 Milliarden Euro: 47,5 Milliarden Entlastung würde ihr Konzept laut DIW den unteren 95 Prozent bringen, 19 Milliarden Belastung für die oberen fünf.

Ein ganz anderer Vorschlag für mehr Steuergerechtigkeit findet sich aber auch darin nicht. Wem es tatsächlich um die „kleineren“ Einkommen geht, der kann ganz einfach für eine Mehrwertsteuersenkung werben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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