Es gibt einen Weg, um sich aus den Niederungen der gegenwärtigen Hartz-IV-Debatte zu befreien: den 2016 völlig zurecht in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film Ich, Daniel Blake (noch einmal) ansehen. Das hilft, dem Schleier der von Alexander Dobrindt (CSU), Jens Spahn (CDU) oder Lars Klingbeil (SPD) geworfenen Blendgranaten auszuweichen, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Etwa darauf, wie schlecht es um die Vermittlung von Erwerbslosen in Arbeit, selbst in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität, steht. 555 Tage waren Grundsicherungsbeziehende 2011 im Schnitt ohne Arbeit, 2016 waren es 629, im vergangene Jahr dann 650 Tage. Die Zahl der Hartz-IV-Beziehenden, die mehr als drei Jahre erwerbslos waren, ist von 298.000 (2011) auf 317.000 (2017) gestiegen. Auf diese Zahlen der Bundesagentur für Arbeit hat die Linksfraktion gerade hingewiesen und dies mit einer Kritik an den Kürzungen der Leistungen zur Eingliederung in Arbeit während der vergangenen Jahre sowie mit der Forderung nach einer sanktionsfreien, existenzsichernden Mindestsicherung verbunden.
Grundpfeiler Erniedrigung
„Trotz Leistungsentzugs müssen sie sich weiterhin auf Arbeitssuche begeben", sagt die Sachbearbeiterin im Auftrag des Staates zu Daniel Blake, dem herzkranken, erwerbslosen Hauptprotagonisten des eingangs erwähnten Films. "Sonst werden ihnen erneut Leistungen gestrichen.“ Es ist nur eine von vielen Szenen, die so treffend jene Erniedrigung beschreibt, welche mit den neoliberalen Reformen der vergangenen Jahrzehnte zu einem Grundpfeiler des Sozialstaates geworden ist. In einer anderen werden eine alleinerziehende Mutter und deren zwei kleine Kinder sanktioniert, weil sie – neu in der Stadt – auf dem Weg zum Amt in den falschen Bus eingestiegen sind und sich daher leicht verspätet haben. Rigide Sanktionen gegen unter Generalverdacht gestellte Arme – das war ein zentrales Element der Agenda 2010, weswegen Ken Loachs Film beileibe nicht allein eine Auseinandersetzung mit dem Großbritannien seit Margaret Thatcher ist. Jede Schulklasse in Europa sollte ihn sehen. Das kann immunisieren gegen jene Propaganda, die den "Sozialbetrug" durch Geflüchtete zum grundlegenden Problem aufbauscht (Dobrindt), Arme gegen Arme ausspielt (Spahn) oder das ganze Thema gelangweilt abtut (Klingbeil).
Ein Ende dieser Erniedrigung muss die erste Prämisse jeder Reform des Sozialstaates sein. Würde ist nicht verhandelbar, und Angst vor dem Abstieg ist kein Motivator, sondern Quelle des Vertrauensverlustes in die Politik, wie wir ihn heute erleben. Sanktionen, zumal gegen Kinder, verbieten sich. Erwerbslose sind keine Drückeberger, sondern Menschen, die die Hilfe eines starken Staates brauchen, um ihr Recht auf Wohnen, Essen und kulturelle Teilhabe zu verwirklichen, wofür die zuständigen Beamten und Angestellten dieses Staates wiederum Geld, Zeit und Qualifikation benötigen. Und um den komplexen Zusammenhängen von Existenzminimum, Einkommenssteuer, Freibeträgen und Sozialleistungen gerecht zu werden, ist die deutliche Erhöhung des Mindestlohns der erste Schritt. Was wiederum wirtschaftspolitische Kreativität erfordert, um den kleinen Unternehmen zu helfen, die dies vor eine Herausforderung stellen würde.
Nicht die Armen sollten im Fokus einer Sozialstaatsdebatte im Jahr 2018 stehen, sondern die Reichen. Das Ausbleiben einer gerechten Besteuerung ihrer obszönen Vermögen ist das grundlegende Problem. Den Jobcentern fehlen Geld und Personal, um sich hinreichend um die Qualifizierung und Vermittlung Erwerbsloser zu kümmern. Ein öffentlicher Beschäftigungssektor mit adäquaten Löhnen und der nötigen qualifizierten Begleitung seiner Teilnehmenden ist teuer. Mehr Geld wird es auch kosten, "das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" mit der Höhe der Leistungen in Einklang zu bringen, was deren gegenwärtige manipulative Berechnung nicht gewährleistet. Und um zu vermeiden, dass Leistungsberechtigte wie 2017 rund 600 Millionen Euro draufzahlen müssen, um sich ihre Wohnungen noch leisten zu können, müssen Mieten nicht nur rhetorisch, sondern auch faktisch eingebremst werden. Das verlangt einen staatlichen Eingriff ins Privateigentum. Von solchen Eingeständnissen ist die aktuelle Debatte aber weit entfernt.
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