Noch ist die Umarmung ein wenig unbeholfen. Montagnacht im hessischen Friedberg, die 800 Besucher der fünften von 23 SPD-Regionalkonferenzen haben die Stadthalle längst verlassen, als sich Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken in ihre jeweiligen Hotels verabschieden, etwas vorsichtig – eben wie zwei, die jetzt Seit’ an Seit’ kämpfen, sich aber seit nicht mal einem Monat kennen.
Mitte August war Nordrhein-Westfalens Ex-Finanzminister gerade mit dem E-Bike in der Eifel unterwegs, als eine SMS der Bundestagsabgeordneten aus dem Schwarzwald einging – ob man sich vielleicht über eine gemeinsame Kandidatur für den SPD-Vorsitz unterhalten wolle; sie hatte nur Gutes über ihn gehört. Bald darauf trafen sie sich zum Essen. Es wurde ein stundenlanges Gespräch – „er ist jetzt der Mann an meiner Seite, dem ich eine Chance gebe“, sagt Esken. Bald entdeckte das Duo biografische Gemeinsamkeiten: Beide haben sich in jungen Jahren in der katholischen Kirche engagiert – und dieser jeweils wegen eines Hirtenbriefes den Rücken gekehrt, in dem der Klerus unverhohlen zur Wahl der CDU aufgerufen hatte.
Nun, innerhalb kürzester Zeit sind der Volkswirt und Finanzexperte sowie die Informatikerin und Digitalisierungsexpertin mindestens zum Geheimtipp im Rennen um den SPD-Parteivorsitz avanciert.
In Friedberg zeigt sich, woher das vor allem rührt – von den Jusos. Knapp 20 von ihnen im Saal drehen den Jubel nach oben, wenn Walter-Borjans und Esken gesprochen haben, liefern während der Runde mit Publikumsfragen Steilvorlagen zur Absage an Hartz-IV-Sanktionen sowie Befürwortung einer Ausbildungsplatzgarantie und knöpfen sich die Konkurrenten vor – Michael Roth etwa, seit 1998 im Bundestag: Wie er denn hier mit wohligen Worten einen Neuanfang für die Sozialdemokratie ausrufen könne, fragt ein Juso, nachdem er im Parlament für alles gestimmt habe, was diese in Misskredit gebracht hat – Hartz IV, schwarze Null, 219a-Kompromiss zur Information über einen Schwangerschaftsabbruch. Verschärfungen des Asylrechts – „Danke, Saskia, dass du dagegen gestimmt hast.“
„Rücken gerade machen und nicht immer schon den Kompromiss mit der Union von Anfang an mitdenken“ – das ist die Devise, für welche das Duo Zuspruch nicht nur von Jusos und deren Bundesvorstand um Chef Kevin Kühnert erntet: Der mit Abstand stärkste Landesverband – in NRW lebt rund ein Viertel der 426.000 SPD-Mitglieder – hat sich hinter die zwei gestellt, obwohl mit Christina Kampmann und Karl Lauterbach weitere Bewerber aus NRW im Feld sind. Die Stadtoberhäupter von Flensburg und Bautzen, Simone Lange und Alexander Ahrens, zogen gleich zu Beginn der noch bis 12. Oktober dauernden SPD-Tour durch die Bezirke ihre Kandidatur zurück – um damit für Esken und Walter-Borjans zu werben. Letzteren empfahl dann noch ein Kreis von Managern im Umfeld der Friedrich-Ebert-Stiftung: Walter-Borjans verstehe es, „zielorientiert und unaufgeregt linke Politik, soziale Gerechtigkeit, innere Sicherheit sowie Finanz- und Wirtschaftspolitik zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu vereinen“.
Solche Manager sind es wohl, die Walter-Borjans meint, wenn er von den „Anständigen“ mit viel und wenig Geld spricht, die seine Partei gewinnen müsse, und dafür Johannes Rau, in dessen Staatskanzlei er zwischen 1984 und 1998 unter anderem als Regierungssprecher arbeitete, zitiert: „Die SPD muss die Partei für die sein, die Solidarität brauchen, aber auch die Partei für die, die Solidarität zu geben bereit sind.“
Dass er selbst als „Anständiger“ gilt, ist der Grund für seine Popularität über die eigene Partei hinaus. Gegen enorme Widerstände in der Schweiz und Deutschland verantwortete er als Landesfinanzminister den Ankauf von Datenträgern mit Informationen über Steuerbetrüger, was der öffentlichen Hand in Bund und Ländern Milliarden einbrachte und ihm den Ruf als Robin Hood. Gerne erzählt Walter-Borjans, der dieser Tage 67 Jahre alt wird, dass ihm dafür nicht nur Leute auf der Straße, sondern auch – anständige – Unternehmer und Millionäre bei Empfängen auf die Schulter klopfen. Er kritisiert Olaf Scholz’ Obsession für die schwarze Null, will „ein Jahrzehnt der kommunalen Investitionen“ und die Verteilungsfrage – gerade auch in Sachen Klimapolitik – ins Zentrum stellen. Das jüngst von der SPD vorgestellte Vermögenssteuer-Konzept beruht maßgeblich auf seiner Arbeit. Sollte es je umgesetzt werden, wäre Walter-Borjans wohl der prädestinierte Sozialdemokrat, um es zu vermitteln.
Er startete seine berufliche Laufbahn beim Henkel-Konzern, verantwortete Marketing für Duschgel. Promovierte über ökonomische und ökologische Folgen des Fernstraßenbaus, war 1986 Mitgründer des ökologischen Verkehrsclubs VCD – wegen einer „umweltverachtenden Auto-Vorrang-Politik“ des ADAC, wie der Spiegel den „Kölner Norbert Walter, 34,“ damals zitierte. Wechselte in die Staatskanzlei in Düsseldorf und wurde Kämmerer in Köln. Oskar Lafontaine, in dessen saarländischem Kabinett Walter-Borjans 1998 kurz als Finanz- und Wirtschaftsstaatssekretär amtierte, sagt gegenüber dem Freitag heute: „Er weiß, wovon er redet, deshalb ist er vor der Banken-Lobby nicht eingeknickt, hat Steuer-CDs gekauft und seine Fahnder auf millionenschwere Steuerbetrüger angesetzt. Er hat den Kopf hingehalten, während die meisten aus der SPD-Spitze, wie Olaf Scholz, erst einmal das Gesicht verzogen und aus sicherer Deckung zugeschaut haben.“
Das Gesicht verzieht Walter-Borjans eher selten – er und Saskia Esken, 58, sähen aus „wie die nettesten Schwiegereltern der Welt“, schrieb jüngst ein Anhänger im Internet. Ob das wirklich reicht, entscheidet die SPD-Basis zwischen 14. und 25. Oktober.
Kommentare 7
es geht um die wahl zum "leucht-turm-wärter-paar"
einer oppositions-partei.
dabei ist "erwiesene unschuld" am niedergang die haupt-sache.
die SPD wird lange keinen kanzler/vize-kanzler mehr stellen.
..... Steuerbetrüger gestoppt?? Habe ich da was überlesen? Sitzen die Cum Ex-Betrüger dauerhaft im Gefängnis? Sind Schäuble und die DeutschBanker wegen Beihilfe und Duldung eingefahren? Sitz Ulli Hoeness wieder im Knast?
Borjans scheint noch ein gewisses Maß an Integrität mitzubringen, die einem Politiker zu eigen sein sollte, so man rückblickend seine Ministertätigkeit in NRW betrachtet. So einen hätte die Nomenklatura der SPD nie zum Bundesfinanzminister gemacht. Diese Tatsache spricht schon für ihn. (Von seiner Partnerin hatte ich vorher wenig bis nichts gehört, für eine Beurteilung reicht es nicht.) Letztendlich wird die Mitgliedschaft der SPD, getrieben und gesteuert von der sie begleitenden Medienlandschaft und deren Umfragen und Richtungskommentaren, sicher für das Modell Scholz und Partnerin votieren und sich dann wieder einmal erstaunt die Augen reiben, weil es immer schneller Richtung Abgrund/Ende geht.
Auf das Selbstzerstörerische der SPD Mitglieder durch das Mittel Vorsitzendenwahl kann man sich wohl weiterhin verlassen. Von welchem der angetretenen Paare bekommen wir eigentlich die Abrechnung mit der Ära Schröder geboten? Still ruht der See. Der König des Niedriglohnsektors und große Zerstörer von Sozialstaat und SPD bleibt weiter unangetastet. Wahrscheinlich werden sie ihn abermals einladen, die nächste und übernächste Krönungsrede zu halten. Dann kann er wieder Venceremos rufen, sich diebisch freuen und die Genossen patschen in die Hände... Alles wie gehabt.
Ich bin schon lange kein SPD Wähler mehr. Trotzdem war Walter Borjans schon immer mein Favorit für eine herausragende Rolle in der SPD. Ich hätte es gut gefunden, wenn er statt der braven Katarina Barley SPD Spitzenkandidat für das EU Parlament geworden wäre. Borjans hätte glaubwürdig und durchsetzungsfähig für Steuergerechtigkeit in der EU gekämpft.
Ob er die SPD als ihr Vorsitzender wieder nach oben bringen kann, muss man sehen. Außenpolitisch, verteidigungspolitisch, umweltpolitisch, verkehrspolitisch und innenpolitisch ist Borjans ein unbeschriebenes Blatt. Wir dürfen nicht vergessen, dass er im Kabinett von Hannelore Kraft nichts gegen das katastrophale Verhalten der NRW Landesregierung nach der Kölner Silvesternacht tun konnte und auch keinen Beitrag zur Umsetzung des gebrochenen Versprechens von Frau Kraft geleistet hat, in NRW "kein Kind zurückzulassen". Auch der chaotischen Schulpolitik von SPD und Grünen in NRW hat er sich nicht widersetzt.
Solange die Groko besteht, ist Borjans auf Olaf Scholz angewiesen, der sicher nicht zu seinen größten Freunden gehört und seine neue Politik als Mitglied des Bundeskabinetts ins Leere laufen lassen kann. Saskia Esken könnte überraschenderweise die fällige Digitalisierung zu einer Kernkompetenz der SPD machen. Vielleicht entwickeln Esken und Borjans im Duett die Kraft, den zerstrittenen Haufen SPD zusammenzuhalten? Zumindest scheinen beide nicht so vom Ehrgeiz auf politische Ämter zerfressen zu sein, wie ihre letzten drei Vorgänger im Amt des (gewählten) SPD Parteivorsitzenden.
Positiv empfinde ich an Borjans neben seinem Vorgehen gegen Steuersünder auch, dass er sich nicht nur für die 20% Abgehängten in unserer Gesellschaft interessiert, sondern zusätzlich für die, die den Wohlfahrtsstaat bezahlen müssen und dazu im Prinzip auch bereit sind. Nur mit beiden Gruppen zusammen kann es -vielleicht - irgendwann wieder gelingen, den Abwärtstrend der SPD zu stoppen und eine glaubhafte Alternative zur CDU darzustellen.
Walter Borjans hat die Würde des Beamtentums gerettet.
Er hat gezeigt, daß es noch Beamte gibt, die sich als Diener des Staates verstehen.
Schon richtig. Bis zu seinem Abgang. Mit der CDU-geführten Landesregierung wurde der Druck auf die Steuerverweigerer aufgegeben. Einige der führenden Beamten aus dem Bereich Steuerfahnung haben deswegen ihren Arbeitgeber verlassen. Borjans sagte, die Beamten dieser Sparte brauchen den unbedingten Rückenwind des Finanzministers. Ist dieser nicht gegeben, bricht die Sache ein.
Es mag ja sein, dass viele, nicht nur junge SPD-Mitglieder Walter Borjans für geeignet halten, wieder mehr Glaubwürdigkeit für die Partei zurückzugewinnen. Aber die Führungskader der SPD werden ähnlich wie bei der Groko-Abstimmung alles unternehmen, um einen Sieg Walter Borjans bei derMitgliederabstimmung zu verhindern und dem Groko-Fan und Totalversager Olaf Scholz zum Parteivorsitz zu verhelfen. Sollte dies unrealistisch werden, hat das Parteiestablishment immer noch das Duo Kampmann/Roth als weiteres Eisen im erlöschenden Feuer.