Nein, über Alleinerziehende hat Martin Schulz in seiner Antrittsrede am vergangenen Sonntag nichts gesagt. Trotzdem ist Christine Finke danach geradezu euphorisch: „Ich kann mir fast vorstellen, zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl SPD zu wählen“, schreibt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder am Sonntagnachmittag aus Konstanz. Dort arbeitet sie als Mutter, Stadträtin, Autorin, Bloggerin – Finke hat über die massive strukturelle Benachteiligung Alleinerziehender das Buch Allein, alleiner, alleinerziehend verfasst und widmet sich dem Thema immer wieder in Artikeln, etwa im Freitag. Im Juli schrieb sie über eine Studie, der zufolge die Armut von Ein-Eltern-Kindern in zehn Jahren um 6,6 Prozent gestiegen ist, während die von Kindern in Paarfamilien um knapp zwölf Prozent gesunken ist.
Der Freitag hatte sie nun gebeten, die Schulz-Rede per Livestream zu verfolgen. Ihr Urteil: „Ich sehe Schulz als guten Verstärker für meine Anliegen – die der Familien mit wenig Geld und insbesondere der Alleinerziehenden.“ Schulz hat am Sonntag gesagt: „Wenn eine Familie mit Kindern, in der beide Elternteile arbeiten gehen, kaum ihre Miete in den Ballungsräumen zahlen kann, dann geht es nicht gerecht zu.“
Die alleinerziehende Finke hat sich aus Arbeitslosigkeit und aus dem Wohngeldbezug herausgearbeitet. Gerade hat sie zum ersten Mal seit Jahren wieder genug verdient, um Einkommenssteuer zu bezahlen, einen niedrigen dreistelligen Betrag. Sie war stolz, als der Steuerbescheid eintraf. Jetzt schreibt sie: Dank seiner Erfahrungen aus elf Jahren als Bürgermeister habe Schulz die Kommunen im Blick, gerade auch die Sozial- und Jugendämter, auf die Alleinerziehende oft angewiesen sind. „Ja, den Mann könnte ich durchaus wählen.“
Das werden sie gern hören im Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg, wo an jenem Sonntag ein großes Transparent über dem Eingang hängt. Kurz vor Schulz’ Rede strahlt die Sonne so gleißend darauf, dass sein Konterfei kaum zu erkennen ist, nur die Worte darunter: „Zeit für mehr Gerechtigkeit. Zeit für Martin Schulz.“ Drinnen ist es voll, Parteimitglieder und Journalisten drängen sich. Von Letzteren scherzen einige auf der Presse-Tribüne mit Verweis auf Donald Trumps Fixierung auf Besucherzahlen: „Bei Peer Steinbrücks Kür als Kandidat war hier doch mehr los.“
Das ist wirklich nur ein Witz, denn Schulz hat im Angesicht Hunderter Parteieintritte, vielversprechender Umfragewerte und von Reaktionen wie der Christine Finkes offensichtlich recht, wenn er erklärt: „Es geht ein Ruck durch die SPD, es geht ein Ruck durch das ganze Land. Wir wollen diese Aufbruchsstimmung nutzen.“
Die Stimmung nutzen
Die Frage ist jetzt nur: Wie will die SPD diese Stimmung nutzen? Und was heißt „mehr Gerechtigkeit“ konkret? Eine „Resozialdemokratisierung“, wie sie der SPD-Bundestagsabgeordnete und Partei-Linke Marco Bülow fordert? Mit Fokus auf „wachsende obszöne Ungleichheit, schrumpfende Mittelschicht und sinkende Chancengleichheit in unserem Land“?
Wie die Ungleichheit in Deutschland wächst, kann Martin Schulz in einer Studie nachlesen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung gerade veröffentlicht hat: Das real verfügbare Einkommen der untersten 40 Prozent ist demnach seit 1999 zurückgegangen, das der restlichen 60 Prozent deutlich gestiegen, vor allem in den oberen Einkommensschichten.
Achten sollte Schulz aber vor allem auf die Passage, in der von den untersten zehn Prozent und der Zeit seit 2010 die Rede ist: Die Löhne und Gehälter sind dort nämlich gestiegen, um 300 Euro pro Jahr – und damit um knapp 20 Prozent. Die SPD kann sich das auf ihre Fahnen schreiben, denn der Grund ist der Mindestlohn: Erst wuchs in der Zeit seit 2010 die Anzahl der branchenspezifischen Mindestlöhne, dann machte sich der kleine Koalitionspartner in der Bundesregierung an die Einführung des allgemeinen Mindestlohns. Es gibt jedoch ein großes Aber: Jener Einkommensanstieg ganz unten konnte nicht die vorangegangenen Einkommensverluste ausgleichen. Seit 1991 hat jenes unterste Zehntel 30 Prozent Einkommen eingebüßt.
Mit anderen Worten: Der Mindestlohn ist ein zu kleines Pflaster für eine zu große Wunde. Was umso mehr im Lichte dessen gilt, was gerade Forscher der Hans-Böckler-Stiftung herausgefunden haben: Fast die Hälfte aller Minijobber erhält überhaupt keinen Mindestlohn, weil ihre Arbeitgeber ihn rechtswidrig umgehen.
Wichtige Stationen bis zur Bundestagswahl
März
Wahlen im Saarland und in den Niederlanden Das kleine Saarland darf am 26. März den Stimmungstester spielen. Derzeit regiert noch Schwarz-Rot. Bekommt die SPD aber eine Mehrheit ohne CDU hin, könnte das ein Zeichen für den Bund sein. In den Niederlanden führt der rechtsradikale Geert Wilders in Umfragen. Es will keiner mit ihm regieren, aber vor allem die Sozialdemokraten werden wohl am 15. März Stimmen verlieren. Kein gutes Omen für Schulz.
April
Frankreich wählt einen neuen Präsidenten Die Wahlen am 23. April galten schon als gelaufen: Marine Le Pen und der Konservative François Fillon sollten die Stichwahl am7. Mai bestreiten. Doch nun scheint alles offen. Gewinnt Fillon oder der liberale Emmanuel Macron, stärkt das Europa. Gelingt den Sozialisten ein Überraschungssieg, stärkt das auch die SPD.
Mai I
Die SPD lädt zum Parteitag Noch ist Martin Schulz nur ein Vorschlag des Parteivorstands. Bei der Krönungsmesse soll er von den Delegierten bestätigt werden. Außerdem wird ein Wahlprogramm verabschiedet werden. Geben sich Schulz und die SPD hier selbstsicher und setzen sie die richtigen thematischen Akzente – soziale Gerechtigkeit und Europa –, kann das ein kraftvolles Signal werden. Kommt es auf dem Parteitag hingegen zum Streit, könnte das fatal sein.
Mai II
Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-WestfalenAm 7. Mai stellt sich die SPD-Regierung im Norden den Wählern. Noch wichtiger ist aber die Wahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai. Für Schulz, den ehemaligen Bürgermeister der NRW-Stadt Würselen, ist das auch ein Heimspiel. Hier muss die SPD ein starkes Ergebnis einfahren, sonst könnte aller Optimismus schnell verflogen sein.
August
Die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt Sechs Wochen vor der Wahl werden die Plakate ausgepackt, jetzt gilt’s. Nun muss allein der Kandidat mit seinem Programm überzeugen. Die Union wird voraussichtlich ganz auf Merkel-Motive setzen. Die SPD wird dagegenhalten mit Inhalten. Doch zum ersten Mal seit langem hat auch sie einen Kandidaten, der eine Geschichte hat, die sich vermarkten lässt. Am 24. September wird sich zeigen, ob das hilft ... Leander F. Badura
Statt mit Pflastern könnte es die SPD in Zukunft also mit ganzheitlicher Heilung versuchen. Ihr Kanzlerkandidat wäre dafür prädestiniert. Denn Martin Schulz war Bürgermeister von Würselen und Europa-Abgeordneter, nicht Bundespolitiker. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung hat er mit Hartz IV und Agenda 2010 wenig zu tun. Dass er über beides nun nicht reden will, ist verständlich – er braucht im Wahlkampf hinter sich eine geschlossene Partei und keine weitere Selbstzerfleischung. Und der Verzicht auf selbstkritisches Räsonieren über Vergangenes hat einen Vorteil: Schulz kann stattdessen selbstbewusst von der Zukunft sprechen, wenn er sich in den kommenden Wochen aufmacht, um „viel im Land unterwegs zu sein“. Hierfür hat er auch jede Menge Zeit, im Gegensatz zu seiner Konkurrentin. Angela Merkel muss ja noch eine Regierung führen.
Käme Schulz in den Berliner Osten, dann könnte er dort Lutz Müller* treffen. Und feststellen, dass sich sogar ein seit mehr als 15 Jahren Erwerbsloser heute vorstellen kann, dem Sozialdemokraten seine Stimme zu geben: „Sigmar Gabriel hätte ich ganz sicher nicht gewählt, aber der Schulz ist ein guter Mann“, sagt Müller. Er steht am Tresen des Stadtteilzentrums und kocht Kaffee, seit vergangenem Frühjahr arbeitet er hier für eine „Mehraufwandsentschädigung“ von 1,50 Euro pro Stunde. Mit Mitte 50 macht er sich keine Illusionen mehr über einen Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt. Als Verkäufer hätte er es gern noch mal versucht, aber er war nicht sehr überrascht, als er auf dem Amt zu hören bekam: „Dafür sind Sie zu alt.“
* Name geändert
Dort auf dem Amt wollten sie, dass er sich wegen seiner Stoffwechselkrankheit in Berufsunfähigkeit und Rente schicken lässt. Dagegen aber hat er sich mit Hilfe eines Anwalts aus der Sozialberatung erfolgreich gewehrt. „Berufsunfähigkeit? Dann hätte ich ja gar keine Chance mehr auf so was“, sagt er und zeigt auf die hellen Wände um ihn herum: das Stadtteilzentrum. In ein paar Monaten läuft seine Zeit hier ab, es gibt vielleicht noch eine Verlängerung, aber letzten Endes sind Jobs wie dieser in Deutschland immer befristet und auch nur symbolisch entlohnt.
Müller und vielen anderen der rund eine Million Langzeiterwerbslosen würde ein öffentlicher Beschäftigungssektor helfen – fernab der Marktlogik und mit der Möglichkeit zu unbefristeter Tätigkeit. „Nicht tätig zu sein, das ist schlimm für mich“, sagt Müller. „Sozial bin ich dadurch total abgeschottet.“
In seiner Rede sprach Schulz vom „Kitt unserer Gesellschaft“. Dieser Kitt seien Sportvereine, Nachbarschaftsinitiativen, Gewerkschaften, Kirchen, Betriebe und Bildungsstätten. Das Stadtteilzentrum von Lutz Müller darf man wohl dazuzählen, und wenn es Schulz im Kern darum geht, „dass wir unsere Gesellschaft zusammenhalten“, dann wäre ein öffentlicher Beschäftigungssektor dafür die richtige Art von Kleber.
Dieser Sektor würde Geld kosten – so wie vieles andere, was Zusammenhalt und Sicherheit schafft. Die Anhebung des gesetzlichen Rentenniveaus etwa. Eine Kindergrundsicherung für die rund zwei Millionen Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland mehr schlecht als recht von Sozialtransfers leben. Ein Ende der Vollsanktionierung von im Schnitt 7.000 Hartz-IV-Berechtigten pro Monat, denen so ihre Regelleistungen vollständig gekürzt werden. Und die Überwachung der Einhaltung des Mindestlohns, so dass er wirklich für alle Arbeitnehmer gilt.
Für Letzteres braucht die öffentliche Hand Personal, wie überhaupt für vieles, was es zu bewältigen gilt: Um den Investitionsrückstand abzubauen, der sich auf 136 Milliarden Euro allein bei den Kommunen summiert, braucht es erst einmal Planer. Um mehr Kita-Plätze und kleinere Schulklassen zu realisieren, sind Erzieher, Lehrerinnen und Sozialpädagogen nötig. Hilfsbedürftige Menschen brauchen qualifizierte Pfleger. Und all das kostet Geld.
Kredite und Steuern
Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, um die Einnahmen zu erzielen, die nötig sind, um diese Ausgaben zu realisieren: zum einen Kredite, zum anderen Steuern. Gegen Erstere hat Schulz, laut seiner Aussagen der vergangenen Jahre, keine großen Einwände. Er ist kein Jünger der schwarzen Null und hat am Sonntag nicht nur das Bundesfinanzministerium für die SPD reklamiert, sondern mit Norbert Walter-Borjans indirekt gleich einen qualifizierten Nachfolger für Wolfgang Schäuble benannt.
Beim Zweiten, den Steuern, will die SPD bisher allenfalls die Steuerflucht bekämpfen. Das aber wollen alle, von Wolfgang Schäuble bis zur Linkspartei. Letztere hat zudem angekündigt, Vermögen von einer Million Euro an mit fünf Prozent besteuern sowie von Unternehmen 35 und von reichen Erben jedes Jahr fünf Milliarden Euro mehr einnehmen zu wollen.
Das würde zwar nur einen kleinen Kreis von Personen betreffen. Der aber verfügt über eine nicht zu unterschätzende Meinungsmacht im Land. Überlässt die SPD hier das Feld der Linken, so muss das nicht einen Kotau vor den Reichen bedeuten. Es gibt noch andere, spannende Steuerideen. Für eine davon wirbt gerade Österreichs sozialdemokratischer Kanzler Christian Kern: die Wertschöpfungsabgabe.
Unter Gewerkschaftern wird das Konzept bereits seit den 1970er Jahren diskutiert. Es gibt verschiedene Spielarten, alle laufen aber auf eines hinaus: den Sozialstaat auf die Digitalisierung der Arbeit und das damit einhergehende Sinken der Lohnquote einzustellen. Die Arbeitgeberbeiträge für die Sozialversicherungen sollen sich nicht mehr allein an ihren Personalkosten bemessen, sondern an allem, womit sie Wert schaffen – Lizenzeinnahmen, Erträge am Kapitalmarkt, Maschinen. Gegner nennen das Konzept abfällig „Maschinensteuer“, da es vor allem auf die voranschreitende Automatisierung zielt. Ersetzt etwa ein Autohersteller einen Arbeiter durch einen Roboter, dann sinken damit nicht seine Lohnnebenkosten. Das Unternehmen muss seine Mitverantwortung für den Sozialstaat weiter tragen. Das wäre ein anregender Impuls für die Debatte um Industrie 4.0 und den Verlust von Jobs durch die Digitalisierung. Zumal es nicht schwer sein sollte, die Idee den Wählern plausibel zu machen: Wenn Roboter uns die Arbeitsplätze wegnehmen, sollen sie wenigstens dafür bezahlen.
Martin Schulz hat gesagt: „Zusammen mit den kreativen Köpfen und allen, die Deutschland besser machen wollen, sollten wir den neuen Schwung nutzen.“ Das Land gerechter machen will er, und das mutlose Weiter-so beenden. An einem Mangel an Ideen sollte das nicht scheitern.
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