Mehr Osten wagen

Porträt Lilly Blaudszun ist 19, gilt als SPD-Influencerin und kommt wie Philipp Amthor aus Mecklenburg-Vorpommern – taugt aber eher als dessen Gegenbild
Ausgabe 30/2020

Bevor sie in die Wurst beißt, holt Lilly Blaudszun ihr Smartphone hervor. „T’schuldigung, ich muss das mal eben fotografieren“, sagt sie. Wenig später empfiehlt ihr Twitter-Profil 26.000 Followern das kulinarische Vorzeigeprodukt der Stadt Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern: eine kräftige Ketwurst, ummantelt von knusprigem Brötchen, dazwischen wohldosiertes Ketchup-Rot. Die Ludwigslusterin Lilly Blaudszun schwört darauf.

26.000 Follower, das ist das Doppelte der Einwohnerzahl Ludwigslusts; aber überregionale Aufmerksamkeit ist für das Würstchen-Eck am Alexandrinenplatz nichts Neues: Lilly Blaudszun zeigt stolz auf die Bild-Zeitungs-Seite, die neben der Theke hängt, ein Luftbild des Flachbaus mit dem Fenster zwischen Ziegelsteinen: „Die Wurst aus der Wand“ – „Deutschlands bestes Würstcheneck“.

An diesem sonnigen Mittwochmittag im Juni wird die Schlange vor dem Fenster nicht kürzer; zehn, zwölf Leute stehen immer an, Handwerker, ein Polizist, und dazwischen die „Nachwuchshoffnung der SPD“, Lilly Blaudszun, die jetzt ihre Augen zusammenkneift: Ist der Grimmige im blauen Polohemd vorne rechts in der Schlange nicht ein Mitarbeiter aus dem AfD-Büro?

Zwei Tage später wird Blaudszun ihren 19. Geburtstag feiern. „Nachwuchshoffnung“ haben viele Medien sie schon genannt, und „Influencerin“ der SPD. Tatsächlich glaubt, wer Blaudszun in den sozialen Medien folgt, diese Frau sei dort zu Hause: gefühlt alle paar Minuten und aus so gut wie jeder Lebenssituation ein Bild, ein Spruch, ein Like. Sehr hohe Schlagzahl, Politik, Essen, Studium, Politik – die Leute klicken, gucken, lesen, liken, antworten – und ja, darunter augenscheinlich etliche, die „sonst nicht so viele Berührungspunkte mit Politik haben“, sagt Lilly Blaudszun, deren „Antrieb“ ist, genau mit diesen Leuten „niedrigschwellig“ über Politik zu diskutieren.

Trotzdem ist Lilly Blaudszuns Zuhause nicht Twitter oder Instagram oder Tiktok oder Facebook. Ihr Zuhause ist hier, wo sie anderthalb Stunden im Schlosspark sitzt und spricht, ohne nur einmal nach dem Smartphone zu greifen. Wo sie dies erst am Würstcheneck tut, an dem dann ihre Tante auf dem Rad vorbeikommt, großes Hallo, die Tante arbeitet beim Ordnungsamt. „Na, kontrollierst du die Abstandsregeln?“, fragt die Nichte. „Nee“, lacht die Tante, „ich hab Mittagspause.“ Lilly Blaudszuns Zuhause ist hier in Ludwigslust, in Mecklenburg-Vorpommern, inzwischen auch ein wenig in Brandenburg, sie studiert jetzt Jura in Frankfurt (Oder). Auf jeden Fall: in Ostdeutschland.

Sie ist schon vom Goethe-Gymnasium aus gern über den Alexandrinenplatz zum Wurstessen geschlendert, aber die Gulaschkanone dort in der Mensa war auch in Ordnung. Vor einem Jahr hat sie Abitur gemacht. „Wir sind die erste Generation, die mit gleichen Waffen zu kämpfen imstande ist“, sagt Lilly Blaudszun, Jahrgang 2001, und meint mit „Wir“ die Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen, und außerdem, dass sie nicht gern „Waffen“ sagt – aber allein diese westdeutsche Dominanz in allen Spitzenpositionen, Dax-Konzernen, Hochschulen, überall! Sie sagt dann doch „Waffen“, ist aber auch für Verständigung zu haben: Nach der Uni-Einführungswoche in Frankfurt hat sie ihre westdeutschen Mit-Erstsemester zum Jägerschnitzel-Essen eingeladen: „Jagdwurst panieren, Zwiebeln in Butter anschwitzen, eine ganze Flasche Ketchup, etwas Milch, Spirelli dazu, Zucker – die waren völlig hin und weg.“

Büffeln nur auf Speed

Kurz hatte sie noch über ein Synonym für die „Waffen“ nachgedacht, eingefallen war ihr dann das Wort „Bildung“. Tatsächlich gibt es wohl wenige Bereiche, in denen die formalen Unterschiede zwischen den Bundesländern wegen des Föderalismus so groß sind, während das große Ganze in Ost wie West und Süd wie Nord am Ende doch überall gleich ausfällt: „Wie uns das Bildungssystem kaputt macht“ ist der Text überschrieben, mit dem Lilly Blaudszun zum ersten Mal bundesweit Aufmerksamheit erregte: 2018 veröffentlichte sie ihn beim Online-Magazin Vice – eine Klage über krassen Leistungsdruck, zeitliche Verdichtung und Mitschülerinnen, die sich nur noch mit Speed und anderen Aufputschmitteln zum Bulimielernen aufraffen können. Der Artikel hätte ebenso in Bayern, Schleswig-Holstein wie in Mecklenburg-Vorpommern entstehen können. „Hört auf mit dem Reinprügeln, Auswendiglernen, der verdammten Effizienz und gebt uns endlich die Möglichkeit, unser Leben zu leben“, schrieb Blaudszun an die Adresse der Politik. „Revolutioniert das Bildungssystem, schnell, oder ,die Zukunft unseres Landes‘ wird kaputt sein, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen hat.“ Der Text ging viral und gedruckte Zeitungen griffen ihn auf, starteten Debatten über die Reformbedürftigkeit des Schulsystems, Schweriner Volkszeitung, Ostsee-Zeitung, schließlich ein langes Interview in der Welt. Das Anschauungsmaterial für ihre Anklage ist an der Uni erhalten geblieben: während der ersten Klausur in Frankfurt (Oder), so erzählt sie, sei eine Kommilitonin aus dem Raum gebracht worden, so krass war ihr Zusammenbruch, und muskulöse junge Männer mit gestriegeltem Dreitagebart hätten angefangen zu weinen, so groß war deren Versagensangst. Blaudszun schildert das mit echter Bestürzung, ohne Häme, obwohl ihr selbst wohl keine Klausur Tränen in die Augen treiben kann: „Wenn ich eine verkacke, dann wiederhole ich sie halt.“ Im Kindergarten, weiß sie von ihre Mutter, sei Lernen ihr „Hobby“ gewesen. Mit zwölf begann sie sich im Jugendrat Ludwigslusts zu engagieren, mit 15 absolvierte sie ein Praktikum bei einem SPD-Landtagsabgeordneten, mit 16 berichtete sie als Vize-Vorsitzende der Jusos Mecklenburg-Vorpommern in einer Reportage der Süddeutschen Zeitung über das Diskothekensterben in der deutschen Provinz. Mit 18, vergangenes Jahr, half sie Dietmar Woidkes Wahlkampfteam, das Ministerpräsidentenamt in Brandenburg zu verteidigen.

Die SPD-Hoffnung

Lilly Blaudszun ist im Juni 19 Jahre alt geworden. Ihre Mutter arbeitet im pflegerischen Bereich, ihr Vater habe „irgendwas mit Finanzen“ studiert. Während ihres Praktikums beim Landtagsabgeordneten Detlef Müller besuchte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier Ludwigslust – und warb Lilly Blaudszun als SPD-Mitglied. Beim Basisentscheid über die neue Parteispitze 2019 sprach sie sich für dessen späteres Sieger-Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken aus. An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) studiert Blaudszun Jura und arbeitet überdies als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie. Eine juristische Berufskarriere kann sie sich gut vorstellen; um ein politisches Mandat will sie sich in allernächster Zeit noch nicht bewerben.

Vier Stunden Polnisch

Jetzt soll sie das Gleiche in Mecklenburg-Vorpommern mit bewerkstelligen, kümmert sich fortan für den SPD-Landesverband und dessen Chefin, Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, um Digitale Kommunikation – 2021 stehen hier Wahlen an, Blaudszun wünscht sich Rot-Rot-Grün. Der Job in Berlin, beim Chef der Landesgruppe Ost der SPD-Bundestagsfraktion, Frank Junge, wäre wohl doch einer zu viel gewesen, ihn hat sie aufgegeben. Aber da wäre ja auch noch das Studium in einem der lernintensivsten Fächer überhaupt, inklusive vier Stunden Polnisch pro Woche.

„Ich bin superprivilegiert, und ich bin mir dessen bewusst“, sagt Lilly Blaudszun, aber es gehe doch nicht um sie, sondern um die, die es weit schwerer haben. Darum will sie ein Schulsystem mit Textbewertungen statt den so viele junge Menschen demotivierenden Noten, ein Schulsystem, das allen mehr Zeit gibt, in dem fächerübergreifender, gerne mal wochenlang nur zum Klimawandel, gelernt wird – und so sagt Blaudszun das auch, wenn sie drei Tage vor ihrem 19. Geburtstag die Landesbildungsministerin zum Live-Chat trifft.

Statt in der Landes- hätte sie sicher auch in der Bundespolitik eine lukrative neue Aufgabe finden können – in Berlin gibt es kaum SPD-Prominenz, die sich noch nicht mit Lilly Blaudszun für ein Selfie ablichten hat lassen. Doch ihre besten Selfies sind die von der Ostsee, wo sie schon als Kind viel Zeit bei der Oma auf Rügen verbracht hat und deren Welle sie sich mit den Initialen „MV“ auf den Arm hat tätowieren lassen, und die aus den Weiten um Ludwigslust, wo sie bereits als Teenager mit dem Trecker ihres Opas rüber ins Dorf einer Freundin fuhr. Lilly Blaudszun kultiviert einen ostdeutschen Regionalpatriotismus, der im Gegensatz zum bayerischen der CSU nicht arrogant, sondern inklusiv daherkommt, selbstbewusst und dennoch einladend; sie schwärmt von der unvergleichlichen Festival-Kultur Mecklenburg-Vorpommerns und vom internationalen Denken an ihrer Uni, der Viadrina in Frankfurt, von der aus sie über die Oder nach Polen laufen kann und an der Menschen aus mehr als 100 Ländern studieren.

Blaudszun ist bodenständig und der Welt zugewandt, aber eben anders als die andere politische „Nachwuchshoffnung“ aus Mecklenburg-Vorpommern: dass sie wie Philipp Amthor ihre politische Karriere nutzt, um durch die Welt zu jetten, Aktienoptionen abzugreifen, sich mit Jungmillionären und Haudegen à la Hans-Georg Maaßen zu umgeben, steht eher nicht zu befürchten. „So’n Lappen“, hat sie sich auf den Fluren des Bundestags gedacht, als ihr wieder mal irgendein junger, aufgeblasener Typ begegnete, der sich „superwichtig“ vorkam, weil er dort zu tun hatte.

Amthor prahlt gern damit, dass Angela Merkel ihm einmal gesagt haben soll, man mache Politik „am besten in der Heimat“, und er deshalb Jura in Greifswald und nicht in Hamburg studierte – dann zog er hinaus in die weite, glitzernde Welt, nach New York, Korsika und in die Schweiz. Blaudszun entschuldigt sich fast dafür, für das Studium aus Ludwigslust ins 280 Kilometer entfernte Frankfurt (Oder) gegangen zu sein – „aber ich musste auch mal raus“ –, und bleibt dann doch politisch hier verwurzelt. Empört sich über die Schließung der Kinderstation in Parchim durch den privaten Klinkkonzern Asklepios. Das hat auch mit ihrem, so sagte sie es mal einer Zeitung, „politischen wie menschlichen Vorbild“ Manuela Schwesig zu tun. Seit sich Letztere hat taufen lassen, teilen beide den christlichen Glauben. Neben der MV-Welle und der Nirvana-Zeile Come As You Are hat sich Blaudszun ein kleines Kreuz tätowieren lassen, am Knöchel.

Evangelische Jungsozialistin, heimatverbundenes Landkind und Influencerin mit fünstelligen Followerzahlen im World Wide Web, entschlossene Klimaschutzbefürworterin und leidenschaftliche Fleischesserin – im deutschen Politikbetrieb der Gegenwart sind solche scheinbaren Widersprüchlichkeiten rar. Dabei spiegeln sie doch die gesellschaftliche Realität und all deren kognitive Dissonanzen recht treffend wider.

Fast schade, dass Lilly Blaudszun sich jetzt erst einmal auf Mecklenburg-Vorpommern konzentriert. Gerade der Hauptstadt würden mehr von ihrem Schlag guttun.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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