China macht vielen hierzulande Angst. Im März senkte Premierminister Li Keqiang die Wachstumsprognose auf sieben Prozent, Ende Juni begannen die gerade noch boomenden Börsen in Shanghai und Shenzhen einzubrechen und im August wertete die Zentralbank den Yuan, Chinas Währung, gehörig ab. Wachstumseinbruch, Währungskrieg: Die Medien in Europa und Nordamerika sind voll von warnenden Schlagzeilen über die globalen Folgen all dessen. Es geht dabei nicht nur um die Abhängigkeit exportorientierter Volkswirtschaften wie der deutschen von Chinas Nachfrage.
Jörg Goldbergs Buch Die Emanzipation des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt erklärt nicht nur, wie sehr sich etwa China, Brasilien, Russland, Indien und Südafrika inzwischen aus der Abhängigkeit von Institutionen gelöst haben, die gestern wie heute von Europa, den USA und Japan dominiert werden, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) etwa. Es führt nicht nur vor Augen, dass im Jahr 2014 Schwellen- und Entwicklungsländer für 58 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts verantwortlich zeichneten, die fortgeschrittenen Staaten für nur 42. Goldberg, bis 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marxistische Studien und Forschungen und danach entwicklungspolitischer Gutachter sowie Regierungsberater in Benin und Sambia, widerlegt eine zentrale hiesige Überzeugung; eine, die tief eingeprägt ist in die Perspektive, mit der viele aus der nördlichen Hemisphäre auf die Welt blicken: Der Süden hat sich eben nicht emanzipiert, indem er die kapitalistischen Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen des Nordens so originalgetreu wie möglich kopiert hat. Zwar folgte dem Zusammenbruch des Sozialismus bis heute eine Ausbreitung kapitalistischer Produktionsweisen auf nahezu den ganzen Planeten. Doch diese entsprach keinesfalls der vollständigen Globalisierung von radikaler Liberalisierung und Deregulierung, von Marktwirtschaft und Demokratie europäischer Machart. Vielmehr hat jede Region ihren eigenen Kapitalismus erfunden, eng verknüpft mit ihren jeweiligen vorkapitalistischen Produktionsweisen und historisch gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnissen.
Chinas Aufstieg, schreibt Goldberg, beruhe nicht nur darauf, dass „die Regierung von Anfang an Tempo und Richtung der Weltmarkteinbindung bestimmte“, sondern ebenso auf Entwicklungen von Eigentums- und Bodenrechten, die dem europäischen Ideal fundamental widersprechen: Staatliche Zugriffsmöglichkeiten und kommunal verwaltetes Kollektiveigentum etwa.
Drei Weltregionen untersucht der Autor: China, Afrika und Lateinamerika. Dass der chinesische Kapitalismus ein anderer ist als der in Europa, ist an sich nichts Neues. Dennoch ist die Lektüre dieser anspruchsvollen Analyse unter Rückgriff auf marxistische Ansätze, Karl Marx und Rosa Luxemburg ebenso wie heutige Autoren lohnenswert. Nicht zuletzt, weil klar wird, warum der Norden derzeit so vor den gegenwärtigen Krisen der Schwellenländer bangt: Zum einen hat Wachstum offenbar auch in China Grenzen. Zum anderen kann man nach China, Brasilien oder Südafrika nicht den IWF schicken, sondern muss auf die Länder selbst vertrauen. Wie deren Krisenmanagement wirken wird, ist ungewiss - jedenfalls haben die Schwellenländer aus der Vergangenheit gelernt und sich mit Devisendepots gegen den jüngst eingetretenen Kapitalabzug internationaler Investoren abgesichert. Und Chinas Regierung führt keinen Währungskrieg, sondern arbeitet zum einen an der Umstellung der Volkswirtschaft des Landes hin zu mehr Binnenorientierung und zum anderen mittels Währungsabwertung, Aktienverkaufsverboten und anderem weiter an der selbstbestimmten Weltmarktintegration.
Info
Die Emanzipation des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt Jörg Goldberg Papyrossa 2015, 326 S., 18,90 €
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