Nach der Sucht

Wirtschaft Andreas Nölke erklärt, wie Deutschland sich vom Exportwahn befreien könnte
Ausgabe 18/2021
Arbeit darf in Deutschland nicht zu viel kosten, damit weiter Mercedes-SUVs exportiert werden können
Arbeit darf in Deutschland nicht zu viel kosten, damit weiter Mercedes-SUVs exportiert werden können

Foto: Krisztian Bocs/Bloomberg/Getty Images

Abbitte zu leisten, ist angesagt: Ich habe dem Autor des hier zu besprechenden Buches jüngst vorgeworfen, er nehme vielleicht nicht ausreichend wahr, dass in der Ökonomie gerade ein Hauch von Veränderung hin zum Besserem spürbar ist. Der Vorwurf traf Andreas Nölke in meinem Freitag-Podcast-Gespräch mit Sahra Wagenknecht. Sie und Nölke waren Gründungsmitglieder der „Aufstehen“-Sammlungsbewegung und beschäftigen sich in ihren neuen Büchern mit heißen wirtschaftspolitischen Fragen. „Krisensituationen“, schreibt Nölke, „sind regelmäßig Phasen, in (und nach) denen intensiv über die künftige Ausrichtung der Ökonomie diskutiert wird.“

Nun, man sollte auch die letzten Kapitel eines Buches gelesen haben, bevor man so einen Vorwurf in den Raum stellt. Andreas Nölke spürt den Hauch. Wer eine gerechtere, resiliente Wirtschaft will, sollte Exportismus. Die deutsche Droge unbedingt lesen. Nölke unterfüttert leise Hoffnungen auf eine Volkswirtschaft für die Vielen mit einer scharfen Analyse der prekären Lage des Status quo, den es zu überwinden gilt: jene toxische Sucht Deutschlands nach einer exportorientierten Wirtschaft.

Wir friedlichen Händler

Denn so wohlig uns all die Exportweltmeister- und Exportvizeweltmeistertitel in den Ohren klingen und so angenehm die Selbstsicht von der friedlichen deutschen Handelsnation, die alle Welt mit ihren vorzüglichen Produkten beglückt, ist: Deutschlands Ausrichtung auf Ausfuhren ist schädlich, nicht nur für andere Staaten, wie es in der Euro-Krise sichtbar geworden ist, sondern auch für eine große Mehrheit der Menschen hierzulande. Das erkennt heute sogar der eigentlich Export-affine Verband der Chemischen Industrie: „Zwar profitieren die Beschäftigten der Exportwirtschaft in Form von hohen Löhnen vom globalen Erfolg. Das betrifft aber nur knapp 25 Prozent der Arbeitnehmer. In anderen Wirtschaftszweigen, wie der Agrarwirtschaft, dem Gastgewerbe oder dem Handel, haben sich die Exporterfolge kaum in Lohnsteigerungen niedergeschlagen.“ Drei Viertel – vom Einzelhandelskaufmann über die Pflegerin bis zum Handwerker – werden also in Sippenhaft genommen, vor allen Dingen durch das allgemeine Gebot der Lohnmäßigung: Arbeit darf in Deutschland nicht zu viel kosten, weil Exporteure um ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit in der Welt fürchten.

Diesem unter Angela Merkel selbst nach ganz Europa exportierten Leitgedanken waren schon Reformen wie die Agenda 2010 gefolgt, die einen extremen Grad an Segregation auf dem Arbeitsmarkt geschaffen haben. Wer früher als Teil der Kernbelegschaft eines Industrieunternehmens am Band stand oder die Toiletten putzte, ist heute oft „outgesourct“, von den Vorteilen eines Tarifvertrags ausgenommen, etwa als Leiharbeiter angestellt und häufig nicht Mitglied einer Gewerkschaft. Nölke führt auch die mehrheitlich nachteiligen anderen Stützpfeiler der Export-Ideologie vor Augen, vor allem die lang etablierte Sparsamkeit eines Staates, der, stolz auf Haushaltsüberschüsse, Schulen verkommen und Krankenhauspersonal auszehrt.

All das hat der Autor gezielt „populärwissenschaftlich“ aufgeschrieben, den Lesefluss in den kurzen Kapiteln stört keine Fußnote – dafür besticht die Bibliografie am Ende: eine Schatzkammer voller aktueller, aufregender Texte aus einer sich wandelnden Welt der Ökonomie. Die Lektüre ist eine tolle Gelegenheit zur ökonomischen Selbstalphabetisierung.

Vor allem „hochqualifizierte Mittelschichten“ will Nölke für eine „anti-exportistische Koalition“ gewinnen – das sind auch die Milieus, denen Wagenknechts Die Selbstgerechten unterhaltsam, aber nicht eben gewinnend den Spiegel vorhält. Dafür bietet er eine hochinteressante Analyse der historischen Herausbildung der deutschen Exportfixierung, die im internationalen Vergleich extrem ausfällt, trotz ihrer offensichtlichen ökonomischen Ineffizienz.

Nölke zeigt, wie breit die Masse derer ist, die von einer „Ausbalancierung“ des Wirtschaftsmodells durch eine dem chinesischen Weg ähnliche Förderung der Binnennachfrage profitieren würden – mittels höherer Löhne und Renten oder anhand von Kommunen, die endlich wieder in die Lage versetzt werden, gute Daseinsvorsorge zu finanzieren, anstatt Altschulden abtragen zu müssen. Dass der Staat massiv in die Zukunft investiert, nicht nur in der Krise, sondern gerade auch im Zeichen des Klimawandels, fordern längst selbst arbeitgebernahe Ökonomen wie Michael Hüther.

Der SPD sei Dank

Die Chancen stehen also nicht schlecht. Brexit, Handelskrieg, Megastau im Suezkanal, ein Virus, das Lieferketten lahmlegt – all das führt die Verletzlichkeit einer auf Export getrimmten Wirtschaft vor Augen, und so waren in der deutschen auch schon vor Corona erhebliche Anzeichen für einen Niedergang deutlich. Mag die von Nölke genau analysierte Corona-Rettungspolitik der schwarz-roten Bundesregierung auf die Exportwirtschaft ausgerichtet sein – eine Kaufprämie konnte die Autoindustrie trotz all ihrer Lobbymacht nicht durchsetzen, der SPD sei Dank.

Exportismus macht deutlich, wie investitions-, innovations- und forschungsfaul die deutsche Wirtschafts- und Fiskalpolitik Unternehmen hat werden lassen: Sie legen ihre Gewinne auf die hohe Kante der Finanzmärkte, statt sich für die Zukunft aufzustellen. Noch einmal der Verband der Chemischen Industrie: „Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis fließt nicht in ausreichendem Maße in die Modernisierung des maroden Verkehrssystems oder den Ausbau der digitalen Infrastruktur, in den Umbau der Industrie oder in Innovationen, Forschung und Bildung. Stattdessen fließt Kapital ins Ausland, wo es zum Teil in Vermögensblasen versickert oder Haushaltsdefizite finanziert.“

Info

Exportismus. Die deutsche Droge Andreas Nölke Westend 2021, 176 S., 22 €

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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