„Nicht immer nur von Umverteilung reden“

Interview Mariana Mazzucato ist ein neuer Popstar in der Ökonomenwelt und berät die Labour Party in Großbritannien
Ausgabe 17/2016

Sigmar Gabriel ist krank, also hält die Laudatio auf Mariana Mazzucato an diesem Tag Hubertus Heil, Vize-Fraktionschef der SPD im Bundestag. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat die Ökonomin in diesem Jahr für ihren Wirtschaftspublizistik-Preis ausgewählt, dessen Motto lautet: Wirtschaft weiter denken. Als Heil fertig ist, sehen viele im Publikum aus, als seien sie längst gelangweilt weggedämmert. Dann aber entert die Italo-Amerikanerin Mazzucato die Bühne – und weckt in furioser, kurzer Rede alle wieder auf: mit ihrem Plädoyer für einen starken Staat, ohne den all die technischen Gimmicks im iPhone nie möglich gewesen wären. Mazzucato lehrt in Großbritannien und berät dort mit Thomas Piketty und Joseph Stiglitz Jeremy Corbyns Labour-Partei.

Zur Person

Mariana Mazzucato, 47, ist Professorin für Innovationsökonomie an der Universität von Sussex in Südengland. Sie wurde in Italien geboren und kam im Alter von fünf in die USA, als ihr Vater einen Job als Physiker am Princeton Plasma Physics Laboratory erhielt, einer staatlichen Forschungseinrichtung des US-Energieministeriums. Mazzucato hat an der New School for Social Research in New York studiert. Ihr Buch Das Kapital des Staates ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen (304 S., 22,95 €)

der Freitag: Frau Mazzucato, was passiert, wenn sich die Briten im Juni für den Brexit entscheiden?

Mariana Mazzucato: Allein schon ökonomisch wäre es eine Tragödie. Jeder Taxifahrer, den ich treffe, ist für den Brexit. Die Debatte wird sehr populistisch geführt und es gibt wahrscheinlich genauso viele Linke wie Konservative, die den Austritt fordern.

Sie beraten die Labour-Partei, die mehrheitlich gegen einen EU-Austritt ist.

Ja, und ich berate auch die Scottish National Party. Schottland ist hier von großem Interesse: Kommt es zum Brexit, dann werden die Schotten erneut über ihre Unabhängigkeit abstimmen, jede Wette.

Warum sind etliche linke Briten für den Austritt?

Weil vom europäischen Projekt gegenwärtig nicht notwendigerweise die Schwächeren profitieren, seien es nun die innerhalb einer Gesellschaft oder die Staaten an der Peripherie des Kontinents. Die Debatte könnte durchaus ein Ansatzpunkt sein, um das zu ändern und ein paar Dinge grundsätzlich neu zu verhandeln in Europa. Aber nicht so wie Premierminister Cameron, der nur sehr bestimmte Interessen bedient, die des britischen Finanzsektors etwa.

Sondern?

Wir könnten uns in Europa ja mal fragen, wie wir hier nachhaltiges und inklusives Wachstum ermöglichen könnten. Was für Abkommen brauchen wir dafür? Was wir heute haben, das ist der Fiskalpakt. Ich mag schon allein das Wort nicht. Denn „fiskal“, das meint eigentlich auch „Geld ausgeben“. Darum geht es bei uns nicht, sondern nur um Einschnitte, um die Frage, wie wir weniger ausgeben können, um ein, zwei oder drei Prozent Defizit. Die USA hatten 2009 ein Haushaltsdefizit von zehn Prozent. Im politischen System dort mag ja einiges im Argen liegen, aber von Überschüssen reden die dort nicht. Nur wir in Europa tun das. Verrückt.

In den USA gibt es jetzt ja auch noch Bernie Sanders, der mehr Investitionen fordert.

Ja, aber ich finde Elizabeth Warren, die Senatorin aus Massachusetts, fast noch interessanter. Sie hat mich letztes Jahr als Sachverständige eingeladen, zu einem Projekt, das sich „Middle Class Prosperity Project“ nennt und die Probleme der Mittelschicht in den Fokus nimmt. Ich habe über die Pharma-Branche gesprochen.

Was hat die mit den Problemen der Mittelschicht zu tun?

In den USA, aber auch in Deutschland und anderswo gibt der Staat sehr viel Geld aus, um Forschung und die Entwicklung neuer Medikamente zu ermöglichen. Bringt die Industrie diese dann auf den Markt, schießen die Preise in unermessliche Höhen. Der Staat wiederum zahlt dann teure Zuschüsse, damit sich seine Bürger überhaupt die Medikamente leisten können. Der Steuerzahler blecht also zweimal: für die Forschung und für die Zuschüsse. Derweil streichen die Konzerne den Profit ein. Ich meine, diese Verbindung zwischen Innovationsökonomie und Sozialstaat ist einer dieser Zukunftsbereiche, über die wir nachdenken müssen. Gerade die Linke.

Über höhere Sozialleistungen?

Nein, die Linke darf nicht immer nur von Umverteilung reden. Sie hat ihre Fähigkeit verloren, grundsätzliche Dinge in Frage zu stellen. Zum Beispiel: Was ist eigentlich Wert? Marx, Ricardo, nahezu jeder ökonomische Vordenker hat sich damit beschäftigt. Aber heute wird an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Business Schools weltweit eine einzige Werttheorie unterrichtet und wir debattieren gar nicht mehr, wo Wert denn herkommt. Wie Wohlstand entsteht.

Wie entsteht Wohlstand?

Es ist ein kollaborativer Prozess. In der öffentlichen Debatte geht es vor allem um die Erfolge privater Unternehmen. Dabei ist der Staat meist fundamentale Grundlage dieser Erfolge.

Ihr Lieblingsbeispiel dafür ist Apple.

Ob Spracherkennungssoftware, GPS, Touchscreen oder überhaupt das Internet: Die Entwicklung all dessen, was heute in einem iPhone steckt, hat der Staat finanziert und zwar direkt. Das gilt für sehr viele Innovationen, die wir heute für grandiose Schöpfungen des so atemberaubenden Silicon Valley halten.

Vieles kommt aus militärisch motivierter Forschung.

Stimmt. All das Zeug mit den selbstfahrenden Autos – vom Staat finanziert. Warum? Damit man Leute töten kann, ohne eigene Leute einsetzen zu müssen. Zum Teil ist das aber ein strategisches Ding: In den USA ist es einfach, an Mittel zu kommen, wenn man von „war on poverty“, „war on drugs“ oder von „Energiesicherheit“ redet. Und in der Realität ist das US-Verteidigungsministerium schlicht weiter der größte Geber, wenn es um Innovationen geht. Aber keine Sorge, andere Bereiche haben gelernt. Die Institutionen für Gesundheit und Energie sind heute der zweit- und der drittgrößte Geber.

Warum ist der Staat so wichtig?

Weil er dort investieren kann, wo sich private Akteure das nie und nimmer trauen werden, weil ihnen das Risiko zu hoch ist. Die erste Mondlandung, von der ja manche sagen, es hätte sie nie gegeben (lacht), war jedenfalls eine riesige Mission, bei der 17 verschiedene Sektoren zusammengearbeitet haben, von der Raumfahrt bis zur Textilindustrie. Das ist ein Vor-bild für die Herausforderungen heute: Klimawandel, demografischer Wandel, Migration.

Gründer im Silicon Valley sagen, sie kümmerten sich genau um diese Herausforderungen. Haben Sie schon einen von denen getroffen, der versteht, dass der Staat nicht nur Gesetze erlässt, die angeblich die freie Wirtschaft behindern?

Sie können beide Seiten anhand prominenter Namen erkennen: Elon Musk weiß, dass der Staat hinter einer Menge Sachen steckt, seine Firmen Tesla und SpaceX haben Milliarden an öffentlichen Geldern bekommen. Peter Thiel, der wie Musk hinter der Entstehung von PayPal steckt, will dagegen, dass alle Unternehmer auf Inseln im Meer gehen, um keine Steuern zahlen zu müssen. Bis eben der Tsunami kommt und Thiel die Küstenwache ruft. Und kennen Sie Brian Eno?

Den Musikproduzenten?

Ja, aber er hat auch eine Stiftung im Silicon Valley mitgegründet, die Long Now Foundation, unter anderem mit Stewart Brant, in den 1960ern eine der berühmtesten Personen in Berkeley.

Den kenne ich nicht.

Brant hat damals die ganze Hippie-Bewegung dazu gebracht, sich für die aufkommenden Technologien zu interessieren, das war gewissermaßen der Startpunkt des Silicon Valley. Brian Eno hatte also mein Buch gelesen und lud mich ein, die Stiftung zu besuchen. Sie brachten mich an all diese hippen Orte und ich habe da durchaus einige Leute getroffen, die verstanden, was für eine wichtige Rolle der Staat in der Vergangenheit gespielt hat und dass es ein Problem gibt, wenn er als Störenfried diskreditiert wird und als Investor ausfällt. Aber es gab auch viele Arrogante, die zu jung schienen, um jemals ein Buch gelesen zu haben. Die sich für Helden halten, die der Staat nur ausbremst. Tim Cook etwa, von Apple, hat es nicht verstanden.

Nein?

Unter ihm hat Apple 60 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe ausgegeben. Gewinne dienen so dem Profit, anstatt dass Apple sie reinvestiert, in neue Innovationen. Sein Vorgänger Steve Jobs hat die Zusammenhänge zwar auch nicht recht verstanden, aber zumindest keine Aktien zurückgekauft.

Gestern wie heute optimiert das Unternehmen erfolgreich seine Steuerlast.

Das ist eben das riesige Problem. Aber am schlimmsten sind nicht die Summen, die hinterzogen und vermieden werden, deren Größenordnungen wir zudem kennen. Das Schlimmste ist, wie Konzerne heute die Steuerpolitik von Staaten beeinflussen. Nach diesen Hinterzimmerdeals über Steuersätze und Anreize gehen Regierungen daran, die Ausgaben für Bildung zu reduzieren. Und diese idiotische Politik bewirkt nichts in Sachen Investitionen und Innovationen.

Eine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft ist aber auch kein Garant für nachhaltigen Fortschritt. Siehe VW und Dieselgate. Da gehören der öffentlichen Hand sogar Anteile.

Ist das so?

Ja, das Land Niedersachsen hält ein Fünftel von VW.

Wow, das wusste ich gar nicht. Aber mir geht es ja nicht darum, zu sagen: Seht, jeder Staat ist ein ach so guter Unternehmer! Wenn man investiert, dann wird es immer auch Fehler geben. Aber bei VW geht es ja nicht um Fehler, sondern um kriminelle Handlungen. Ich komme aus Italien, wo sogar die öffentliche Bank Mist ist. Der Punkt ist: Wie transformiert man öffentliche Institutionen, damit sie zukunftsorientiert und selbstbewusst genug sind, um auf Augenhöhe mit dem Privatsektor arbeiten zu können. Nicht nach dem Motto: „Wir müssen wirtschaftsfreundlich sein, also welche Steuer sollen wir für Sie beseitigen?“

Wie also umgehen mit VW?

Die US-Behörden machen es doch vor: Sie fordern von VW als Kompensation Investitionen in Zukunftstechnologien. Das hat Obama bei der Übernahme von Chrysler durch Fiat auch gemacht. Fiat muss seitdem in Hybridantriebe investieren. Auf lange Sicht wird sich das für Fiat sogar auszahlen.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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