Thomas Oppermann hat Recht, wenn er dieser Tage an Willy Brandt denkt. Ob das als Entwurf vorliegende Wahlprogramm der SPD wirklich das „beste seit Brandt“ ist, wie der Fraktionschef der SPD im Bundestag meint, sei dahingestellt – noch fehlen klare Aussagen zur Steuerpolitik. Gerade bei diesen Themen aber sollte die Partei ruhig an Brandt und dessen Wahlkampf 1972 denken.
Im damaligen Sommer hätte niemand mehr auf die SPD und ihre linksliberale Koalition mit der FDP gewettet, dann folgten der emotionalste Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik, die mit 91,1 Prozent bis heute höchste Wahlbeteiligung und der Sieg Brandts. Volle Säle bei Parteiversammlungen und Wahlkampfreden, die Parteimitglieder höchstmobilisiert: War das nicht gerade noch so ähnlich bei der SPD, in jenen Wochen nach Martin Schulz’ Kür als Kanzlerkandidat? Der Hype war kein rein medialer, er war echt, mehr als 10.000 SPD-Neumitglieder bezeugen das.
Und jetzt? Scheint keine der vielen guten Forderungen der Partei mehr jemanden hinter dem Ofen hervorzulocken: sachgrundlose Befristungen abschaffen, Familiensplitting für alle mit Kindern statt nur für Verheiratete, Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Schule. Im Betrieb soll paritätische Mitbestimmung künftig von 1.000 statt wie bisher von 2.000 Mitarbeitern an Pflicht sein – und dabei die Zahl der atypisch Beschäftigten endlich systematisch berücksichtigt werden. Das ist gut, aber nicht genug. Willy Brandt gewann 1972 vor allem deshalb, weil er sich mit den Mächtigen der Wirtschaft anlegte, „die Intervention des Großen Geldes“ in Gestalt von millionenschwerer Wahlunterstützung für CDU und CSU anprangerte.
Das „Große Geld“ interveniert auch heute: gegen Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung, für die weitere Privatisierung der Altersvorsorge und ein höheres Renteneintrittsalter. Das sind ganz einfache Fragen mit ganz einfacher Konfliktlinie: „Oben gegen unten“ traut sich aber kaum noch wer zu sagen, seit es die AfD und andere zur Parole gemacht haben. Das ist falsch. Die SPD sollte Mut haben, sich wieder auf die Seite der vielen statt auf die Barrikade der Reichen zu stellen. Dann gibt es zwar sicher weniger Parteispenden für die SPD. Aber mehr Prozente – und die Chance, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.
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