Pipeline Der polnische Ex-Außenminister – hochintelligenter, ambitionierter Exzentriker – hält die USA für den Urheber der Anschläge auf die Nordstream-Pipelines. Er huldigt ihnen für eine „kleine Sache, die freut“. Wer ist Radosław Sikorski?
Nun wird er also gegrillt: Das US-Außenministerium nennt seine Andeutungen „russische Desinformation“, Polens rechte Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) fragt bereits nach seinen Nebenverdiensten sowie möglichen Kreml-Verbindungen, und Radosław Sikorskis Chef, der Ex-EU-Ratspräsident und Vorsitzender der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO), Donald Tusk, kanzelt den 59-Jährigen intern ab. Ein Beitrag des schillernden Politikers, der im Jahr 2014 auf dem Höhepunkt der Maidanproteste in Kiew als Polens Außenminister eine wichtige Vermittlerrolle gespielt hat, auf der Online-Plattform Twitter schlug zwei Tage lang hohe, auch internationale Wellen. Am Freitag dann, dem 30. September, wurde der Tweet kurzerhand gelöscht.
kurzerhand gelöscht. Man könnte meinen: kein Wunder! Denn als einziger namhafter westlicher Politiker eines weitgefassten Mainstream-Zentrums schrieb er die mutmaßlich mit Bomben ausgeführten Angriffe auf die beiden Nordstream-Pipelines den US-Amerikanern zu. Und zwar nicht als Kritik, als Schuldzuweisung – sondern als Lob. „Thank You, America!“ schrieb Sikorski, und setzte daneben ein Bild von einer der Stellen in der Ostsee, an denen das Gas wohl noch bis Sonntag ausströmen wird. „Eine kleine Sache, aber sie freut“, twitterte er später. Die Ukraine und die baltischen Staaten seien, so Sikorski, seit 20 Jahren gegen den Bau von Nord Stream 2 gewesen. In einem weiteren Eintrag erklärte er, diese Situation – nach den Nordstream-Explosionen – stärke die Position Polens, der Ukraine und auch der Türkei, durch die Gaspipelines nach Westeuropa führen. Er wies darauf hin, dass Nordstream 2 ein Instrument der „ungestraften Korruption Westeuropas“ ist, und die Beschädigung der Pipeline den Handlungsspielraum des russischen Präsidenten Wladimir Putin einschränke. „Wenn er die Gaslieferungen nach Europa wieder aufnehmen will, muss er über die Länder gehen, die die Gaspipelines Brotherhood (Freundschaft) und Jamal kontrollieren“ – Belarus, die Ukraine und Polen. Putins PerspektivenSo weit, so richtig – im Kern sagt Sikorski, was jedem einleuchtet, der auf die Nordstream-Sabotage mit einem unvoreingenommen Blick schaut: Putin ist der letzte, der kurz- und mittelfristig als Gewinner der Zerstörung der Gaspipelines gelten kann. Denn sollte sich die Situation der Gasversorgung in der EU in den kommenden Monaten verschärfen und zu sich anbahnenden politischen Wirren (auf den Straßen wie an den Urnen) führen, hat der Kreml nun einen Trumpf weniger in der Hand, um die Europäer, wenn nicht zu zähmen, so doch zu spalten – über die Aushandlung einer Neuaufnahme der Gaslieferungen über die Ostsee.Trotz dieser Sachlage verweisen Analysten etwa in Sikorskis polnischer Heimat darauf, dem Kreml könne die Zerstörung der Pipeline nutzen, weil er so in der Gaslieferfrage noch mehr Druck auf die Europäer ausüben könne – als ob Gazprom auf Weisung Putins den Gas-Hahn nicht einfach auf- und zudrehen könnte. Dem russischen Konzern, schreibt die renommierte polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, nutze die zerstörte Pipeline 1 in der Frage möglicher Schadenersatzforderungen seiner westlicher Abnehmer, weil er nun sagen kann: Wir würden, aber können nicht. Doch das Argument ist weit hergeholt – denn schon jetzt dürften sich die (gegenseitigen) Klagen, auch durch Russland gegen westliche Staaten und deren Sanktionen, meterweise stapeln. Doch wie heißt es bei Gewinnspielen: „Der Rechtsweg ist (bis auf Weiteres) ausgeschlossen“. Es herrscht (Wirtschafts-) Krieg. Ein absoluter USA-FreundWarum also lohnt ein Blick auf Sikorski, und warum sollte man seinen Gedanken ernst nehmen? Weil der Mann ein absoluter USA-Freund und Transatlantiker ist. Zwischen 2001 bis 2005 war er Direktor der New Atlantic Initiative beim neokonservativen US-Think-Tank American Enterprise Institute (AEI), mit dem verteidigungspolitische Falken verbunden sind und waren und wo er etwa Richard Perle oder Paul Wolfowitz traf. In seiner Funktion als Polens Verteidigungsminister der ersten PiS-Regierungen (2005-2007) bekämpfte Sikorski Nordstream 1 massiv und schimpfte auf das deutsch-russische Projekt als neuen „Ribbentrop-Molotow-Pakt“.2007 wechselte er die politischen Lager, ging von der PiS zur Bürgerplattform des späteren Premiers Donald Tusk und wurde Außenminister (2007-2014). Auf dem Höhepunkt der Maidanproteste und der Verhandlungen zwischen dem Lager Wiktor Janukowitschs und den Oppositionsvertretern ging sein emotionales Statement „Ihr werdet alle tot sein“, das er den Oppositionskräften um die Ohren haute, falls sie einem Deal mit Janukowitsch nicht zustimmten, um die Welt. Danach war er kurzzeitig als möglicher EU-Außenbeauftragter im Gespräch, bevor er in Polen bei einer Abhöraffäre in die Bredouille geriet. In den heimlich aufgezeichneten Mitschnitten von Privatgesprächen sagte er unter anderem, dass für ihn Polens allzu enge Bindungen an die USA auf Kosten der Beziehungen zur EU und Russland nutzlos, gefährlich und „Bullshit“ seien. Sikorski ist mit der bekannten US-Publizistin und Historikerin Anne Applebaum verheiratet, einer Russland-Expertin, die Anfang September von Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einem hohen Staatsorden ausgezeichnet wurde. Sie hat sich seit Beginn des Krieges stets für einen Sieg Kiews und eine Niederlage Putins auf dem Schlachtfeld ausgesprochen. Diskussion mit John MearsheimerWer sich ein Bild von der intellektuellen Versiertheit und Schlagkraft Sikorskis sowie seiner Positionen im Ukraine-Krieg machen will, dem sei ein langes Streitgespräch u. a. zwischen ihm und dem US-Politologen John J. Mearsheimer vom Mai dieses Jahres ans Herz gelegt. Nicht nur dort wird deutlich: der 59-Jährige, der 2010 schon einmal Polens Präsident werden wollte und parteiintern am späteren Präsidenten Bronislaw Komorowski scheiterte, dürfte sich in seiner jetzigen Funktion als EU-Politiker deutlich unterfordert fühlen.Angesichts seines kaum verhohlenen Narzissmus, der rhetorischen Schlagkraft, des brillanten Englisch und seines unbändigen Machtehrgeizes kann man durchaus davon ausgehen, dass Sikorskis Tweet-Inhalte zeigen: Er brachte seine Schnell-Analyse der Vorfälle in der Ostsee ohne Zeitverzögerung aufs digitale Twitter-Papier, und ohne die möglichen Folgen zu bedenken. Nach dem Prinzip: Ich habe verstanden, was die meisten von euch nicht zu wagen denken – dass der Hauptverbündete im eigenen Lager bomben könnte.Was Joe Biden zu Nordstream sagteSikorskis „Beleg“? Er verlinkte die in der Tat denkwürdige Pressekonferenz vom 7. Februar in Washington D.C., bei der US-Präsident Joe Biden – nicht mit, sondern in Anwesenheit von Bundeskanzler Olaf Scholz – das Ende von Nordstream 2 verkündete, falls Russland die Ukraine angriffe. Der US-Präsident antwortete auf eine Frage einer Journalistin nach der Zukunft der Pipeline im Falle eines russischen Überfalls zunächst: „Dann gibt es kein North Stream 2. Wir machen dem ein Ende.“ Die Journalistin hakte nach, wie die USA dies konkret tun wolle, da es sich um deutsche Infrastruktur handele? Biden: „Ich verspreche Ihnen, wir werden in der Lage sein, das zu tun“. Noch vor der Löschung seiner Tweets am Freitag beeilte sich Sikorski, alle seine Gedanken als „Arbeitshypothesen“ zu bezeichnen, die er nur „in seinem eigenen Namen“ verfasst habe. Inzwischen ist auf seinem Twitter-Account das Bild „#Standwith Ukraine“ zu sehen, und Sikorskis Plädoyer und Unterstützung für die Demonstrierenden im Iran. Von Nordstream keine Spur. „Thank you America“ – viel Lärm um nichts?
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