„Nur der Staat kann den Verlierern helfen“

Interview Branko Milanović forscht und lehrt als Ökonom zu Ungleichheit, Migration und Handel
Ausgabe 13/2018
„Es ist ratsam, die Globalisierung zu akzeptieren“
„Es ist ratsam, die Globalisierung zu akzeptieren“

Foto: Roberto Ricciuti/Getty Images

Dass die SPD sich nicht endlich tatsächlich auf einen Neuanfang besinnt, liegt nicht an den Gästen, die sie sich einlädt. Genau genommen hat die Friedrich-Ebert-Stiftung Branko Milanović an diesem Montag im März nach Berlin geholt: um ihn mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik zu ehren. Andrea Nahles hält die Festrede.

Die Liste der Träger des Preises liest sich wie ein Who is Who progressiver Denker: Oliver Nachtwey für sein Buch Die Abstiegsgesellschaft, Mariana Mazzucato für Das Kapital des Staates (der Freitag 17/2016), zuvor Mark Blyth für Wie Europa sich kaputtspart. Milanovićs geehrtes Werk trägt den Titel Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht (Suhrkamp 2016).

der Freitag: Herr Milanović, was halten Sie vom politischen Ziel offener Grenzen für alle?

Branko Milanović: Konzeptuell und philosophisch ist das ein gutes Ziel und macht Sinn. Politisch aber kann es kein Ziel sein, schlicht weil es mit den politischen Präferenzen der aufnehmenden Gesellschaften kollidiert. Die politische Philosophie sollte sich damit befassen, und die Ökonomie auch, denn wir wissen, dass vollkommen offene Grenzen das Bruttoinlandsprodukt drastisch steigern würden. Aber da offene Grenzen für alle politisch nicht durchsetzbar sind, müssen wir Migration anders gestalten, eben politisch nachhaltig.

Sie haben da einen Vorschlag.

Ja, ich denke, wir müssen zunächst realisieren, dass die Bereitschaft zur Aufnahme von Migranten in einem Land in Verbindung steht mit der Quantität der Rechte, die diese Migranten erhalten. Wenn jemand nach Deutschland kommt und ihm sofort Anspruch auf Sozialleistungen und unbefristeten Aufenthalt zuteilwird, dann wird die deutsche Öffentlichkeit eher weniger denn mehr Migranten akzeptieren. Wenn aber die Aufenthaltsdauer strikt reguliert, der Anspruch auf Sozialleistungen ausgeschlossen und andere, mit der Staatsbürgerschaft eines Landes einhergehende Rechte vorenthalten werden, dann wird die Aufnahmebereitschaft größer sein.

Aber Migranten, die nach Deutschland kommen, werden doch schon heute oft rechtlich schlechter gestellt als deutsche Staatsbürger.

Gut, ich kenne die Situation in Deutschland nicht genau. Im Grunde geht es darum, dass die Leute stets entweder für einen ganz spezifischen Job oder für eine genau bemessene Dauer kommen – und wenn für eines von beiden die Grundlage nicht mehr gegeben ist, müssen sie das Land verlassen. Das mag jetzt hart klingen, aber soll dieses Konzept funktionieren, dann kommt es vor allem auf seine stringente Durchsetzung an.

Zur Person

Branko Milanović, 64, promovierte 1987 an der Universität Belgrad zu „Einkommensungleichheit in Jugoslawien“. Zwischen 1991 und 2013 war er leitender Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank, er lehrt heute an der City University of New York. Sein 2011 auf Englisch erschienenes Buch Haben und Nichthaben. Eine kurze Geschichte der Ungleichheit wurde 2017 auf Deutsch veröffentlicht (Theiss, 264 S., 24,95 €). Milanović bloggt unter glineq.blogspot.com

Was ist mit – vor allem armen – Herkunftsländern? Sie verlieren durch Migration ja qualifizierte Arbeitskräfte.

Ich hielt das zunächst eher für ein vorgeschobenes Argument derer, die schlicht nicht wollen, dass Fremde kommen. Aber nein, das Problem ist real. Wenn ein kleines, armes Land nur wenige Fachkräfte für Abwassertechnik ausbildet und ein Großteil von diesen emigriert – wer kümmert sich in diesem Land dann um sauberes Wasser? Andererseits: Wir können doch nicht zurück zur Berliner Mauer und den Menschen verbieten, das Land zu verlassen. Wenn Staaten feststellen, dass die Emigration ein Problem für sie ist, dann müssen sie gegensteuern und mit höheren Löhnen oder anderen Anreizen dafür sorgen, dass die Leute bleiben.

Mauern sind ja keine Sache der Vergangenheit mehr. Andrea Nahles hat in ihrer Rede vorhin von einem Taxifahrer erzählt, der ihr sagte: Trump hat recht mit seinem Protektionismus, der tut wenigstens etwas für seine Leute.

Natürlich hat der Taxifahrer nicht ganz unrecht. Natürlich gibt es Leute, die etwa infolge billiger Importe aus China in den Staaten unter Druck geraten sind. Ich bezweifle aber, dass Trumps Maßnahmen länger als ein Jahr oder zwei, drei Jahre lang funktionieren. Auf die Dauer kann man nicht etwas schützen, was sich nicht rechnet. Außerdem glaube ich, dass nicht einmal Trump als US-Präsident mächtig genug ist, um das innerhalb von 60 Jahren aufgebaute Regelwerk der Welthandelsorganisation zu ändern. Ich kann den Taxifahrer verstehen, aber in einigen Jahren wird von diesem Protektionismus nichts übrig sein.

Sie zeigen in Ihrem Buch diverse Folgen der Globalisierung für die Ungleichheit auf: Global ist sie gesunken, in Ländern wie China, Indien oder Vietnam haben viele an Einkommen dazugewonnen. In den alten Industrieländern hingegen haben die Einkommen stagniert oder sie sind gesunken.

Ja, und es gibt gute Studien, die den Zusammenhang beschreiben: wie sich etwa die Durchdringung des US-Marktes mit chinesischen Importen langfristig negativ auf die Löhne in manchen Sektoren in den USA ausgewirkt hat. Ähnliche Arbeiten gibt es mit dem Fokus auf Europa.

Ist diese Entwicklung nicht schlicht und ergreifend Ausdruck dessen, was wir heute erleben – das Abdanken des Westens, der Aufstieg Asiens?

Es ist nicht populär, das zu sagen, aber ja, in gewisser Weise ist der Aufstieg Asiens der relativen ökonomischen Kraft der Mittelklasse im Westen abträglich. Aber das ist kein Nullsummenspiel, bei dem die Weltwirtschaftsleistung gleich bleibt und ein größerer Anteil für den einen zwangsläufig mit einem kleineren Anteil für den anderen einhergeht. Gerade wegen China und Indien ist die Weltwirtschaft ja gewachsen. Dass heute nicht einfach jeder mehr hat, dafür gibt es Gründe.

Welche?

Nationalstaatliche Politik war nicht in der Lage, den gesellschaftlichen Gruppen zu helfen, die Verlierer waren.

Wie das nun heute zu ändern wäre, ist in Deutschland gerade unter Linken sehr umstritten. Die einen sagen: Das geht in diesen Zeiten nur noch auf globalem Wege. Die anderen wollen sich auf nationalstaatliche Politik konzentrieren, so wie sie etwa zwischen 1945 und 1980 recht gut gelungen ist.

Es wird nicht funktionieren, so zu tun, als wäre es 1965 und die Politik von damals zu wiederholen. Die Welt ist jetzt globalisiert und daher ist eine Rückkehr zu Kapitalverkehrskontrollen, nationalen Währungen und Zöllen nicht wirklich eine Option. Sie können einer deutschen Firma nicht verbieten, in der Slowakei zu investieren. Die Dinge haben sich sehr dramatisch verändert: 80 Prozent der Beschäftigten arbeiten inzwischen im Dienstleistungssektor, da geht es viel kleinteiliger zu. Das erschwert es immens, die Leute gewerkschaftlich zu organisieren wie einst. Selbst in Deutschland, wo es noch vergleichsweise mächtige Akteure wie die IG Metall gibt, ist der Organisationsgrad gesunken.

Dann bleibt also nur, sich alldem schicksalsergeben zu fügen?

Nein, aber es ist ratsam, die Globalisierung zu akzeptieren. Und auch unter deren Umständen kann der Nationalstaat eine aktive Rolle spielen, was soziale Belange angeht. Ja, er muss es sogar tun, denn es gibt niemand anderen dafür.

Sie fordern etwa eine wirksame Besteuerung von Erbschaften.

Ja. Das obere eine Prozent muss höher besteuert, der Finanzsektor besser reguliert werden. Kleinere Investoren brauchen steuerliche Entlastung.

Und dann schlagen Sie noch die Beteiligung von Arbeitern an den Unternehmen vor. Kommt das aus Ihrer Arbeit zu Jugoslawien, wo es Ähnliches gab?

Nein, in Jugoslawien was das etwas anderes. Dort konnten Arbeiter mitentscheiden, über Räte, waren im Management vertreten, aber sie hatten selbst keine Anteile an den Firmen; darum aber geht es mir jetzt, um eine Stärkung kleiner Investoren. Die sind heute im Nachteil gegenüber den großen, die ihr Kapital dank teurer Beratung lukrativ anlegen können. Die Arbeiter sollen Anteile erhalten und sie verkaufen dürfen, was ja nichts gänzlich Neues ist, das gibt es ja auch heute schon.

Das wird der Chef von Siemens in Deutschland, Josef Käser, gern hören. Er hat neulich gesagt: Mag sein, dass die Ungleichheit steigt, aber das liege im Wesentlichen daran, dass „viele Arbeitnehmer nicht an der Vermögensbildung durch Aktien teilnehmen“.

Ja, klar, soll er seinen Arbeitern mehr Anteile geben, als Bonus oder Teil des Gehalts. Mir ist diese Sache wichtig, weil wir in allen reichen Ländern in den vergangenen 20 Jahren eines gesehen haben: Der Anteil des Einkommens aus Kapital ist gestiegen. Und wenn das Kapital stark konzentriert ist, dann erhöht das die Ungleichheit zwischen Individuen quasi automatisch. Wenn ich hier der bin, der das gesamte Kapital hat, und der Anteil des Kapitals am Gesamteinkommen, etwa gegenüber Löhnen, steigt, dann werde ich reicher und die Ungleichheit wird größer. Die Dekonzentration des Kapitals ist für reiche Länder extrem wichtig, um Ungleichheit zu reduzieren. Das ist die Logik dahinter.

Nun ist die globale Mobilität des Kapitals heute aber so groß, dass es vielen Menschen inzwischen völlig illusionär erscheint, dass sich für die hohe Konzentration Lösungen durchsetzen lassen, die weltweite Wirkung haben.

Das ist wahr. Würde sich Europa jedoch dazu entschließen, gegen die Kapitalflucht hart durchzugreifen, dann könnte das durchaus wirken, so wie Druck auf Liechtenstein oder die Schweiz durchaus schon gewirkt hat. Natürlich wird es wohl keine Welt ganz ohne Steueroasen geben, aber viele kleine Inseln wie die Caymans sind, wenn sie Gegenwind bekommen, verletzlich.

In Ihrem Buch ist nicht nur von politischer Regulierung die Rede, wenn es um Wege zur Reduktion der Ungleichheit geht. Oft, wenn Letztere sehr hoch war, hat nur ein Krieg sie wieder gesenkt. Ist das nicht vielleicht die heute schon realistischste Prognose?

Es ist schrecklich, ich bekomme solche Fragen immer öfter gestellt. Aber das ist doch keine Lösung. Das wäre ein Desaster. Als ob mein Knie schmerzt und ich mich deshalb umbringe.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter Politik

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

Sebastian Puschner

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