Am blitzschnellen Wandel der Meinung etlicher deutscher Journalisten lässt sich Europas Malaise gut ablesen: Eben noch empörten sie sich, dass die Staatschefs im EU-Rat bei der Besetzung der Kommissions-Präsidentschaft das Spitzenkandidaten-Prinzip außer Kraft setzen wollen – als dann aber der Name Ursula von der Leyen die Runde machte, brach Euphorie aus: Erstmals seit Walter Hallstein jemand aus Deutschland in diesem Job! Jetzt solle sich die SPD bitte nicht so haben; ihre Verweigerung der Zustimmung zu von der Leyen – peinlich fürs Land!
Eben diese Dominanz eines Denkens, das nur auf nationalstaatliche Einflussnahme stiert, ist europäische Realität. Das Spitzenkandidatenprinzip war von Anfang an ein Versprechen, das dieser Realität widersprach, eine Demokratisierung der EU nur suggerierte und alsbald gebrochen werden würde. Der wahre Taktgeber in Europa, nicht nur bei Personalentscheidungen, sondern vor allem im Gesetzgebungsprozess – sind die Ratsgremien mit den Regierungsschefs, Ministern und deren Beamten. Sie sind auch das größte Einfallstor für die in Brüssel übermächtigen Lobby-Interessen, weil der Rat völlig intransparent und das Organisieren von Sperrminoritäten gegen progressive Vorhaben wie die Finanztransaktionssteuer ein Leichtes sind, per Einflussnahme auf Regierungen. Zudem: Allein auf jeden EU-Beamten, der sich mit der Finanzindustrie beschäftigt, kommen vier Lobbyisten dieses Metiers.
Das Votum für diese Frau, die mit den Europawahlen nichts zu tun hatte, ist auch inhaltlich nur konsequent: Verteidigung und Rüstung sind die Felder, auf denen die EU sich noch am ehesten zu Zusammenarbeit aufraffen kann, und das sind auch die Felder, über die von der Leyen sprach, wenn es um Europa ging. Vorwürfe wegen Unregelmäßigkeiten, etwa mit Beratern, in ihrem Verteidigungsministerium? Geschenkt.
Wäre auch zu schön gewesen, hätte in der EU bald eine Frau an der Spitze stehen sollen, die tatsächliche Zukunftsfelder beackert – Steuergerechtigkeit und die Macht der digitalen Monopolisten etwa. Margrethe Vestager, Kommissarin und Spitzenkandidatin zudem, hat eben das getan und nicht nur den US-Riesen Google mit Milliardenstrafen belegt. Aber solch eine Kommissionspräsidentin wäre in Washington eben nicht wohlgelitten.
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